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Alles Lust will Ewigkeit — mitternächtliche Kritiken

Was rauskommt, wenn einer der führenden Intellektuellen des Landes über 11 Zeilen 320 Seiten schreibt: über Konrad Liessmanns Nietzsche-Buch und warum der deutsche Überphilosoph in der Szene gemobbt wird

Our boy Nietzsche /// Alexandra Timofeeva (c)

EINS! Oh Mensch! Gieb Acht! ZWEI! Was spricht die tiefe Mitternacht? DREI! Ich schlief, ich schlief-, VIER! Auf tiefem Traum bin ich erwacht:- FÜNF! Die Welt ist tief, SECHS! Und tiefer als der Tag gedacht. SIEBEN! Tief ist ihr Weh-, ACHT! Lust – tiefer noch als Herzeleid: NEUN! Weh spricht: Vergeh! ZEHN! Doch alle Lust will Ewigkeit-, ELF! -will tiefe, tiefe Ewigkeit! ZWÖLF!

Ganz schön schön, nicht wahr? Jedoch auch ganz schön kryptisch. Man fragt sich: „Was möchte uns der Künstler damit sage?“. Dies ist Nietzsches, beziehungsweises Zarathustras bekanntestes Gedicht/Lied aus Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra- Ein Buch für Alle und Keinen. Und was uns Nietzsche beziehungsweise Zarathustra, welche keines Falls gleichzusetzen sind, wie ich gelernt habe, damit sagen möchte, bringt uns Prof. Dr. Konrad Liessmann in seinem neusten Buch Alle Lust will Ewigkeit – Mitternächtliche Versuchungen näher. Ich habe das Buch sowohl gelesen als auch die dazugehörige Vorlesung an der Universität Wien besucht und zu guter Letzt eine Prüfung über dieses Buch geschrieben. Nach der Note zufolge habe ich das Buch zumindest in befriedigender Weise verstanden. Befriedigend genug für eine Kritik.

Ein Philosoph, der von der Philosophie geächtet wird

Da Nietzsche auf der einen Seite ein Philosoph ist, der an der Universität nicht gerne gesehen ist, aufgrund seiner starken Kritik an der analytischen und akademischen Philosophie und man ohne Probleme einen Master, vermutlich sogar einen Doktor in Philosophie machen kann, ohne jemals Nietzsche gelesen zu haben, was ich beschämend für die akademische Philosophie finde, und auf der anderen Seite ein Philosoph ist der nicht ganz einfach zu fassen und zu verstehen ist, freu ich mich immer, wenn engagierte DozentInnen und ProfessorInnen, sich dem akademischen Mainstream widersetzen und ihn doch mit in Ihre Vorlesungen/Seminare einbeziehen. So freute ich mich über die Vorlesung „Alle Lust will Ewigkeit“, was für ein schöner Name, von Prof. Dr. Konrad Liessmann. Einem der bekanntesten Intellektuellen Österreichs.

Prof. Dr. Konrad Liessmann /// APA, Picturedesk, Der Standard (c)

Das Konzept des Buches fand ich schon einmal sehr interessant. Prof. Dr. Liessmann widmet jeder Zeile des Buches ein eigenes Kapitel. Also jeweils 15-30 Seiten für 3-6 Wörter. Das machte mich gespannt darauf, was man so viel über so, scheinbar wenig schreiben konnte. Dieses Konzept erinnert an Harry G. Frankfurts bekanntes Essay „On Bullshit“, in welchem der Philosoph auf 67 Seiten das Wort Bullshit analysiert. Auch erinnert es an das, bei nicht Philosophiestudierenden wohl bekanntere Format „5 Minuten Harry Podcast von und mit coldmirror“ von und mit der Youtuberin Coldmirror, in welchem sie in ca. 40-60 Minuten langen folgen jeweils 5 Minuten des Films „Harry Potter und der Stein der Weisen“ analysiert. Und mit analysiert ist hier wirklich jeder Frame und jeder Gegenstand gemeint. Vom Holz, aus dem Möbel im Hintergrund bestehen, bis zu den Namen und Hintergründen der Eulen, welche Hedwig, Harry Potters Schneeeule, im Film spielen. Dies hat einen großen Vor- und einen großen Nachteil, welcher bei Coldmirror und Konrad Liessmann unterschiedlich ins Gewicht fallen.

Good Cop - Bad Cop (über den Stil und den roten Faden)

Der große Vorteil ist, dass man wirklich ein enormes Spektrum an Informationen zu Nietzsche bekommt. Man lernt die verschiedensten Informationen zu Nietzsches ´Begriffen, warum und wie er diese benutzte, weltbekannte Konzepte Nietzsches wie das des Übermenschen, des letzten Menschen, der Ermordung Gottes, Nietzsches Leiden, seine Familiensituation, seine Freundschaften und und und. Auch lernt man viel über allgemeine Dinge im philosophischen Kontext, Positionen von Schopenhauer, die Philosophie des Schlafes und des Traumes, der fehlenden Philosophie der Geburt, Platons Höhlengleichnis, Oberflächlichkeit, Tiefe, Untergründlichkeit etc.

Das Buch ist wirklich eine gute Möglichkeit, sich einen Überblick über Nietzsches Philosophie und damit verbundenen Motiven und Denkern zu verschaffen. Vieles ist auch einfach nur interessant und nice to know. Im Zuge dessen muss auch gesagt werden, dass es wirklich Spaß macht das Buch zu lesen. Es ist gut verständlich und einfach geschrieben, was nicht bedeutet, dass Tiefe fehlt. Es ist schön, einmal einen Philosophen zu lesen, der gut und interessant schreiben kann. Denn man muss zu geben, viele große Geister waren geniale Philosophen und Denker, doch wirklich grottige Schriftsteller. Bei diesem Buch verhält es sich erfreulicherweise anders.

Der große Nachteil, den diese Fülle an Informationen und die Breite des Spektrums mit sich bringt, ist jedoch ein fehlender roter Faden. Es fühlt sich an, als würde man alles über jede Zeile, über jedes Wort lernen, jedoch nichts über das Gedicht als Ganzes. Die Frage, was uns der Künstler mit diesem Gedicht sagen möchte, wird also nicht wirklich beantwortet. Vermutlich ist sie auch nicht wirklich zu beantwortet. Es ist klar, dass Dichter und vor allem einer wie Nietzsche, welcher oft absichtlich sehr widersprüchlich schreibt, keine klare Interpretation ermöglichen, jedoch fehlt mir in dem Buch etwas, dass die Kapitel über die Zeilen miteinander verbindet. Die Kapitel stehen jeweils relativ alleine für sich dar. Auch sind die Informationen, die man bekommt, manchmal etwas wahllos, und es geht oft von Höcksken auf Stöcksken. Und Mücken werden zu Elefanten gemacht.

Über unnötige Kommentare und Fehlerkultur

Eine weitere Sache, die mich allgemein an dem Buch stört, aber zum Glück nicht allzu oft vorkommt, sind die etwas unnötigen und abfälligen Kommentare zu zeitgenössischen Positionen à la:

„Die verordnete Schmerzfreiheit der Diskurse, die nun überall eingerichteten Safe Spaces gleichen synthetischen Beruhigungsmitteln, die über die Ursachen des Leids eine Zeit lang hinwegtäuschen können. Oder, um im nietzscheanischen Duktus zu sprechen, es gibt einen Grad von Wehleidigkeit, der diesen Imperativ des »Vergeh!« dazu benützt, nichts mehr an sich heranzulassen, dass nur im Entferntesten die eigene emotionale und geistige Befindlichkeit trüben könnte.“

Hierbei ist das Konzept eines Safe Spaces, also das eines Raumes welcher frei von Diskriminierung, nicht verstanden worden und meiner Meinung nach hätte man sich diesen Kommentar sparen können, ohne dass dabei etwas im Buch verloren gegangen wäre. Es ist einfach nur eine polemische Kritik an einer Welt, welche man vielleicht einfach nicht versteht, was man wohl als Professor nicht gewöhnt ist. Manchmal muss man nicht alles kommentieren und manchmal sollte man vielleicht zuhören anstatt zu reden.

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Ich möchte dabei aber betonen, dass derartige Positionen und Kommentare nur einen kleinen Teil ausmachen und nichts mit der Essenz des Buches zu tun haben, sondern eher hier und da unnötige Kommentare am Rand sind, welche man am besten einfach überliest. Professor Liessmann ist eindeutig kein Anhänger der Fraktion „Man darf ja heutzutage gar nichts mehr sagen, ohne dass man gecancelt wird“, aber natürlich auch nicht perfekt. Fehler müssen kritisiert werden, müssen aber auch legitim sein. Es sollte in jeder Debatte und in jeder Veröffentlichung Platz für eine Fehlerkultur geben. Niemand ist perfekt.

Wer diesen Artikel nun aufgrund eines Interesses für Nietzsche, Philosophie an sich und mit Nietzsche verbundener Philosophie begonnen hat, sollte dieses Buch lesen. Auch ist Fans von Liessmannbüchern das Buch ans Herz zu legen. Es gibt einem einen großen Überblick über Nietzsche und macht dabei noch Spaß zu lesen. Wer eine messerscharfe analytische Untersuchung Nietzsches Gedicht erwartet, wird jedoch eher enttäuscht. Womit das Buch für Hardliner der akademischen analytischen Philosophie somit nicht zu empfehlen ist.

Analytic philosophy: hot or not

Zuletzt möchte ich mich noch einmal dem Thema Nietzsche an der Universität und im Philosophiestudium zuwenden. Hierzu habe ich mich an Prof. Dr. Liessmann selbst gewandt, um eine mit der Akademie und Nietzsche deutlich vertrautere Position hinzuzuziehen.

Zunächst muss dazu gesagt werden, wie Professor Liessmann selbst betont, dass er die aktuellen Studienpläne der Universität Wien nicht (mehr) beurteilen kann, da er kein aktiver Mitarbeiter der Universität Wien oder sonst einer Universität ist. Allerdings hält auch er das Verhältnis Nietzsches zur akademischen Philosophie, welches Liessmann als ein Verhältnis gegenseitiger Verachtung charakterisieren würde, für ein wichtiges Thema. Hierbei sieht er mehrere Gründe für als ausschlaggebend. Auf der einen Seite pflegt Nietzsche, wie oben bereits erwähnt, einen sehr aphoristisch-literarischen Stil, also einen durch kurze geistreiche Aussprüche geprägten Stil. Dagegen ist die akademische Philosophie, wie Liessmann passend beschreibt, ausgezeichnet durch die Rekonstruktion und Diskussion von Argumentationsfiguren. Mir kommt es im Studium manchmal fast so vor, als hätte die Philosophie die Mathematik als Vorbild, à la: „Dieses Argument plus dieses Argument minus jene Prämisse (Vorannahme) ergibt klar diese Meinung. Keine Diskussion!“. Was ich definitiv, wahrscheinlich auch Nietzsche und vielleicht auch Professor Liessmann, für lächerlich halte. Dieser Kritik, der an der analytischen Philosophie, bedarf es wohl jedoch eines eigenen Artikels.

Die Ablehnung Nietzsches

Einen sehr interessanten Punkt für die Ablehnung Nietzsches an der akademischen Philosophie könnte nach Professor Liessmanns Meinung auch Nietzsches radikaler Moralkritik liegen. Hier ein kleiner Einschub zu Nietzsches moralkritik. Nietzsche wirft der Philosophie und vielleicht der Gesellschaft im Allgemeinen vor, bestimmte moralische Annahmen einfach übernommen zu haben und nie hinterfragt zuhaben, woher diese entstammen. Nehmen wir als Beispiel die klassische Annahme Tod=Schlecht. Wenn man dies einmal genauer betrachtet, gibt es eigentlich keinen fixen Zusammenhang zwischen diesen beiden. Wenn wir tot sind, ist uns das relativ egal, auch spüren wir keine Schmerzen. Natürlich für die Angehörigen kann das Schmerzen bringen, Trauer etc. Doch ist das vielleicht nur unserer Kultur erwachsen? Und sind das vielleicht auch nur egoistische Beweggründe der Angehörigen?

Zuletzt könnte im deutschen Sprachraum nach Professor Liessmann die Vereinnahmung Nietzsches durch die Nationalsozialisten auch immer noch eine Rolle spielen. Nietzsches hat sich zeitlebens deutlich gegen Antisemitismus ausgesprochen, deshalb auch seine Freundschaft zu Richard Wagner aufgekündigt und wurde von den Nationalsozialisten vor allem durch Mithilfe seiner stark antisemitischen Schwester stark für Ihre Ideologie vereinnahmt, zu einer Zeit in der Nietzsche bereits geistig umnachtet und nicht mehr ansprechbar war. Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum wird Nietzsche in Frankreich und zum Teil in den USA deutlich mehr in der akademischen Philosophie rezipiert und diskutiert.

Ich möchte meinen Artikel im Sinne Nietzsches mit einem Zitat gegen das analytische Denken und für das Chaos und die Kunst beenden. So heißt es in Nietzsches Also sprach Zarathustra:

„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“