Bohema Magazin Wien

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Aufzeichnungen aus dem Probengalopp

In unregelmäßigen Abständen empfängt Bohema Signale aus dem Alltag am Theater. Beobachtungen und Erkenntnisse, Hasstiraden und Liebeserklärungen, Anekdoten und Probenpannen. Die zweite Aufzeichnung handelt von neuen Stoffen, die es auf die Bühne schaffen.

(c) RSC Theatre Collection /// Lara Cortellini

Die Arbeit als Regieassistentin erfordert Parallelität. Ich befasse mich gerade gleichzeitig mit drei Stoffen. Und als ich an einem freien Sonntagnachmittag auf die nächste Seite meiner Lektüre blätterte, fiel mir auf, dass sich die Welt in meinem von Proben brummenden Kopf gerade um ein großes Themenfeld dreht. In meinem Magen spüre ich ein Aufbegehren, eine Freude, einen revolutionären Funken.

Das Theater, eine Fabrik

Stoff Nr.1: Als Abendspielleitung betreue ich regelmäßig die Vorstellungen des Stücks Das Gift. Ein Stück, in dem zwei Narrative aufeinandertreffen: Mutterschaft und Umweltschutz. Wer unsere Uraufführung nicht sehen kann: die filmische Umsetzung gibt es auf Netflix mit dem Titel Fever Dream.

Stoff Nr. 2: Als Regieassistentin betreue ich die angelaufenen Proben von Sivan Ben Yishais Liebe / eine argumentative Übung und verliere mich in dem großartigen Text und den interessanten konzeptuellen Gesprächen, die die Proben einleiten. Es geht um weibliches Begehren unter dem - wer hätte es gedacht und wie könnte es auch anders sein - patriarchalen Deckmantel. Und über die Stimmen, die wie Engelchen und Teufelchen gegeneinander ansprechen und argumentieren und es von vornherein besser wussten.

Stoff Nr. 3: Nach Feierabend lese ich das Buch Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl, das bei den diesjährigen Salzburger Festspielen im Schauspiel anlaufen wird und das ich ebenfalls noch betreuen darf. In dem wunderbaren Buch - nach knapp 150 Seiten kann ich dieses Fazit bereits ziehen - geht es ganz grob um Mutter -, Tochter- und Freundinnenschaft. Und Söhne und Väter und Generationen, die aufeinanderprallen. Meistens sind die Besetzungen der Assistierenden und die dazugehörige Arbeit am Stoff ein Zufall, eine Disposache. Aber in mir schlummerte immer schon der Glaube, dass es da was gibt, das uns sachte in eine bestimmte Richtung lenkt. Etwas, das aus Zufällen, Absichten macht. Aber vielleicht ist es auch nur die Geschichte, die ich mir rückwirkend erzähle. Jedenfalls fällt mir auf: die Stoffe, die wir erzählen, ändern sich. Sie werden weiblich*. Es mag Zufall sein (oder?), dass die Stoffe, mit denen ich mich gerade befasse, rund um die Frau/Mutter/Tochter/Freundin handeln und sich zur weiblichen Perspektive summieren.

Aber klar: nicht nur das ist weiblich*. Es gibt so viele Lebensrealitäten wie Menschen auf der Erde. Und damit einen riesigen Topf an Geschichten, die es zu erzählen gibt. Diese finden in der zeitgenössischen Kunst momentan auch mehr Beachtung, manche immer noch zu wenig. Ja, ich pauschalisiere sehr. Aber wer jahrelang überwiegend männliche Kunst gelesen, gesehen und gehört hat, der*m fällt auf, dass sich die Produktion und der Zugriff auf weibliche* Kunst geweitet hat. Jede*r kennt den Kanon. Und der Kanon ist irgendwie gleich. Manchmal scheint es mir, als würde sich die breite Öffentlichkeit erst jetzt ihrer eigenen, (immer schon dagewesenen) Diversität bewusst. Und schickt diese jetzt vorbildlich durch alle Medienkanäle.

Die Kunstwelt, eine große WG

Es gibt mehr Platz für Stoffe, die noch vor 10 Jahren ignoriert wurden. Stoffe, die es immer schon gab. Die sich jetzt aus ihrer Unsichtbarkeit heraus trauen, nicht zögerlich, sondern voller Lärm und Eifer. Weil Kunst ein sicherer Hafen sein kann, ein Zuhause für alle. Mit genug Zimmern und einem riesigen Gemeinschaftsraum, in dem diese Geschichten aufeinandertreffen können und sich bei einem Kaffee oder Wein austauschen können. Zumindest ist das meine Utopie. Für das Leben und für das Theater.

Entwaffnung ist die beste Verteidigung

Die zwei Texte dieser kleinen Kolumne tragen kleine Hoffnungsschimmer in sich: Auf ein Theater der Zukunft. Dabei habe ich - jetzt wo ich selbst in dem Räderwerk einer Kulturinstitution stecke - bei den vielen offenen Fragen die meiste Zeit selber keine zufriedenstellende Antwort. Manchmal allerdings eine Ahnung, wie eine Antwort aussehen könnte. Beispiel: Habe ich mich früher über den vierzehnten Hamlet und den dreiundzwanzigsten Sommernachtstraum aufgeregt und Antons drei Schwestern schon fünf mal kennengelernt, habe ich verstanden, dass die alten Klassiker (unter anderem) die finanzielle Sicherheit liefern, damit neue, aktuelle Stücke es überhaupt auf die Bühne schaffen. Ich habe vieles besser verstanden. Und bin damit auch verständnisvoller geworden. Wenn an der Tür des Gemeinschaftsraums das nächste Mal neben neuen Geschichten auch neue Tugenden anklopfen, lassen wir sie herein. Mit einem Getränk in den Händen lässt es sich am besten diskutieren.