Bohema Magazin Wien

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Barocker Techno

Moderne Musik aus dem 18. Jahrhundert mit dem gleichen Effekt, wie eine Technonacht: der sonderbare Überfliegerpianist Daniil Trifonov im Konzerthaus.

Seltene Naturaufnahme: Ein Trifonov in freier Wildbahn /// DG, Dario Acosta (c)

Daniil Trifonov spielt Bachs Kunst der Fuge am ersten April: Das wird wohl ein Aprilscherz sein, am Ende wird er bestimmt Skrjabin, Chopin oder Prokofjew spielen, hätte man gedacht. Für solche Sachen ist er nämlich bekannt, mehr noch, weltberühmt. Doch Trifonov, der kompromissloseste, abgeklärteste und vielleicht auch beste Pianist seiner Generation, spielte tatsächlich Bach. Wenn ich in Konzerten seiner Kolleg*innen sitze und nicht ganz zufrieden bin, schummert es mir oft im Hinterkopf: Das könnte Daniil ‘The Machine‘ Trifonov besser. Entsprechend gigantisch sind meine Erwartungen an den armen Kerl, wenn ich ihn wieder einmal live höre.

Was Trifonov vor dem Konzert trinkt

In meiner letzten Trifonov-Kritik vor einem Jahr schrieb ich über sein skurriles Prä-Konzert-Getränk, über seine merkwürdige Erscheinung und die noble ‚Ahnenreihe‘ seiner Lehrer*innen. Ich schloss damals mit dem Ausblick auf sein Bach-Konzert: Auf diesen Abend bin ich gespannt, seitdem ich das Aboprogramm das erste Mal in der Hand hielt. Was wird dieser spätromantisch veranlagter Tastentiger mit meinem geliebten Bach anstellen?

Vielleicht waren meine Erwartungen einfach zu hoch, nach den ersten 10 Minuten war ich jedenfalls leicht enttäuscht. Die stellenweise starken Verzögerungen, den romantischen Touch hat man erwarten können. Das störte mich weit weniger als bei Lang Langs überpersonalisierten Goldbergvariationen im Herbst; Trifonov verstand es meilen besser, die großen Bögen im Auge zu behalten, überlud die Musik nie komplett mit persönlichen Einfällen. Mich ärgerte eher die fehlende Klarheit. Bachs Fugen sind riesige, wunderschöne, aber schwer durchschaubare Architekturen. Da wünsche ich mir so viel Licht, so viel Präzision, wie nur möglich. In seinen Aufnahmen macht das Trifonov deutlich besser. Ist sicherlich nachbearbeitet, die Mikrofone sitzen zudem deutlich besser als das Publikum.

Trotzdem: In Sokolovs Liveaufnahme, die ich zur Vorbereitung hörte, waren die einzelnen Linien deutlich klarer, er bewies zudem vor wenigen Wochen im gleichen Saal, dass sich poetische Feinheit und gläserne Durchsichtigkeit nicht ausschließen. Auch ein Igor Levit, der mir manchmal doch zu trocken ist, wäre mir für Bach im Nachhinein wohl lieber gewesen. Das ist natürlich alles Kritik auf höchstem Niveau, Trifonov bot insgesamt sehr viel Feines. Er zog sich immer wieder in ein introvertiertes Pianissimo zurück, beugte sich dabei mit seinen langen Haaren so weit runter, dass er fast seine Hände küsste.

Wie eine Nacht im Berghain

Und ich vergaß bald meine Meckereien und verlor mich in dieser göttlichen Musik. Bachs Fugen sind vielleicht das Absoluteste, was es in der Musikgeschichte gibt, neben ihnen klingen Beethoven oder Rachmaninow altmodisch. Sie sind mit ihren kühn-perfekten Strukturen eher wie moderne Stücke von Steve Reich, fast so abgeklärt wie Berliner Techno, nur mit einer Prise Menschlichkeit gewürzt. Und sie befreien den Kopf mindestens so gut, wie eine durchtanzte Nacht im Berghain. Ich floss am Abend vor dem Konzert im heißen Außenbecken der Therme Wien zur billigen Unterwasser-Loungemusik dahin, während der Regen mein Gesicht kühlte und war so entspannt wie selten. Trifonovs Bach versetzte mich in einen ähnlich befreit-entspannten Zustand. Balsam für die Seele.

Nach der Pause meditierte Trifonov weiter an seinem Bösendorfer (vielleicht hätte ein Steinway für mehr Klarheit gesorgt, in den Videos für die Aufnahmen tauchen tatsächlich ein Steinway und ein Fazioli auf). Die 12. Fuge spielte er fast so langsam, wie Bachlegende Glenn Gould, nur ohne der elektrisierenden Spannung, für die er so geliebt (und gehasst) wird. Nach der erhebenden unvollendeten letzten Fuge, die Trifonov selbst ergänzte, war mir der letzte Programmpunkt dann zu cheesy. Die Choralbearbeitung von BWV 147 spielte er schon bei seinem letzten Auftritt als Zugabe. Diesmal verlangsamte er bei den Choreinsätzen noch drastischer. Wer weiß, wie oft er das Stück seitdem auf seinen Tourneen gespielt hatte. Als Amateurpianist, der notgedrungen immer die gleichen Stücke spielt, weiß ich, dass man mit der Zeit immer mehr zu extremen Interpretationen neigt. Lustig, wie sich hier die Besten und die Schlechtesten der Klavierwelt treffen: Erstere spielen so oft, weil sie die ganze Welt hören möchte, Letztere, weil sie so langsam weiterkommen... Die Aufnahme ist jedenfalls von unglaublicher Schönheit und bekräftigt mich wieder einmal in meiner Meinung: Bach ist und bleibt der Primus inter Pares unter den großen Komponist*innen.

Bonus: Wie schon Víkingur Ólafsson, bekam auch Trifonov von DG zu seine Bachplatte kitschige Musikvideos. Bei Ólafsson wurde immerhin eine Geschichte erzählt, die lose Sammlung von Klischees, die Trifonov bekam, finde ich noch skurriler. Diese Bilder eines Genies, der in der Nacht à la Beethoven herumgeistert, sind einfach lächerlich...