Bohema Magazin Wien

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Festwochen-Logbuch

Selbstironie und Antielitarismus meets internationale Opernbubble: Milo Raus La Clemenza di Tito ist wie auf die Festwochen-Hearings abgestimmt und kitzelt aus den Konservativen Buhs.

Selbstverliebter Künstler statt Kaiser /// Nurith Wagner Strauss (c)

21. Mai: La Clemenza di Tito

Welch ein Kontrast! Im ersten Hearing über die Zukunft der Festwochen diskutierte der Rat der Republik, ob ein Programmbeirat das Festival antielitärer gestalten, den ‚normalen‘ Menschen in den Randbezirken näherbringen könnte. Gleichzeitig sammelte sich im Museumsquartier vor der Premiere von La Clemenza di Tito ein äußerst elitär wirkendes Publikum, die internationale Kulturbubble. A long way to go, wenn das ernst gemeint wird mit dem Antielitarismus. Was auf der Bühne passierte, war aber überraschend nah daran, was im Hearing diskutiert wurde: Milo Rau deutete die Geschichte radikal um, statt einen Kaiser, der fast ermordet wird und dann den Revolutionär*innen begnadigt zeigte er einen selbstverliebten Künstler, der seine Kunst auf dem Rücken der untersten Bevölkerungsschicht betreibt, sie ausnutzt.

Selbstironie? Her damit!

Endlich wurde bei den Festwochen Selbstironie gewagt, als der Künstler seiner elitären Bubble vor einem Festwochen-Banner eine Pressekonferenz hielt. Oder hat sich damit Rau nicht selbst karikiert?  Zentrales Anliegen des Intendanten war laut eigenen Angaben, zu zeigen, dass die Elite, in diesem Fall die Kunstbubble, vom Abbilden und Ästhetisieren der „kalten Welt“ Profit zieht. Diese Message kam eindrucksvoll rüber, der Versuch, durch das Erzählen von den persönlichen Geschichten der Statist*innen auch die „kalte Welt“ zu Wort kommen zu lassen, ging aber auf Kosten der Oper.

Geschieht ihr recht, könnte man meinen, Raus Aussage, die Oper sei historisch immer in den Diensten der Elite gestanden ist im Großen und Ganzen wahr. Noch dazu ist La Clemenza eine berüchtigt lange, stellenweise langweilige Oper. Kürzungen und Umdeutungen sind also durchaus willkommen. Der konservative Teil des Publikums (der bei Opern durchaus vorhanden ist…) hatte aber aus der eigenen Perspektive gute Gründe, sich am Ende mit Buhs zu bedanken. Das taten sie auch, aber ganz ehrlich, wer eine klassische Titus-Inszenierung gewünscht hat, hätte gleich zu den Pfingstfestspielen nach Salzburg fahren sollen.

Von Dávid Gajdos

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18.-20. Mai: A Noiva E O Boa Noite Cinderela (The Bride and Goodnight Cinderella)

Zwischen überbordender Performance, eindrucksvollem Vortrag und rabiater Ehrlichkeit: Carolina Bianchis The Bride and Goodnight Cinderella über Gewalt an Frauen, Vergewaltigung, Femizid und ob Katharsis nach einem Missbrauch möglich ist.

Triggerwarnung: Nacherzählung sexueller Gewalt & Femizide.

Irgendwie hat mich die Beschreibung der Performance der brasilianischen Autorin, Performancekünstlerin und Theatermacherin Carolina Bianchi und ihres Kollektivs Cara de Cavalo auf Anhieb gepackt, weshalb ich mich dafür entschied, mich mit diesem Stück das erste Mal aus meiner Komfortzone der Kunstkritik hinein in die Performance und das Theater zu begeben - man macht sich ja ab und an gerne selbst das Leben schwer. Ich glaube der Grund für meinen Wunsch, über diese Performance zu berichten, lag sehr viel weniger in der Kontroverse und der Ungewöhnlichkeit dessen, was dort auf die Bühne gebracht wird, als viel eher in der Tatsache, dass das behandelte Thema als weiblich gelesene Person so erschreckend nah an einem dran ist, einem ständig im Rücken auflauert - und einem während dieser Performance frontal ins Gesicht geschleudert wird.

Das Gute im Menschen? Forget it

Nehmen wir uns den Titel vor: The Bride bezieht sich auf die italienische Künstlerin Pippa Bacca, welche für Bianchi den Ausgangspunkt für dieses erste Kapitel ihrer Performance-Trilogie Cadela Força bildete. Bacca begab sich 2008 in einem Hochzeitskleid auf eine Reise, welche sie per Anhalter von Mailand nach Jerusalem führen sollte. Eine selbstauferlegte Bedingung: Sie würde zu jeder Person ins Auto steigen, welche für sie anhält. Als Zeichen des Friedens stand diese Performance unter dem Motto „Wenn Du an das Gute im Menschen glaubst, kommt das Gute zu Dir zurück“. Diese Worte, vorgelesen von Bianchi auf portugiesisch, zusammen mit Bildern Baccas auf ihrer Reise, welche auf der Leinwand im Hintergrund gezeigt werden, hallen mir in Anbetracht des Endes ihrer Reise besonders stechend wider: Auf ihrem Weg in der Nähe von Istanbul wurde Pippa Bacca brutal vergewaltigt und ermordet.

© Christophe Raynaud du Lage

Der zweite Part des Titels, Goodnight Cinderella, ist die in Brasilien geläufige zynisch-euphemistische Bezeichnung für ein Drogengemisch, welches Frauen heimlich in Drinks verabreicht wird, um sie bewusstlos und damit missbrauchbar zu machen. Nachdem Bianchi, an ihrem Tisch mitten auf der Bühne sitzend, eine Zeit lang über Bacca und andere Geschichten von Gewalt an Frauen referiert (ein Stapel von 500 Seiten eigener Recherche dazu liegt vor ihr), mischt sie sich vor den Augen des Publikums ihr eigenes Goodnight Cinderella an, welches sie in ähnlich zynisch-euphemistischer Weise mit einem Strohhalm aus einem mit bunten LED-Lichtern bestückten Glas trinkt und laut ausschlürft. Alle ahnen, was passieren wird, dass sie schon bald unkontrollierter handeln und sprechen und letzten Endes bewusstlos werden wird, während sie jetzt noch weiter ihren Vortrag hält, bevor die Wirkung einsetzt. Das macht diese Situation besonders merkwürdig. Als sei man Mitwisserin. Als sei man selbst Täterin, welche die Drogen verabreicht hätte und nun dem Opfer wartend zuschaut.

Die Droge wirkt

Als sie letzten Endes einschläft, übernimmt ihr achtköpfiges Team die Performance. Der Bühnenraum öffnet sich und die Gruppe gestaltet die Bühne um, der Bass von Technomusik schallt uns laut entgegen. Tanzen lässt K.-o.-Tropfen schneller wirken. Die Gruppe führt den Vortrag Bianchis in verschiedenen Formen der Umsetzung weiter, während sie daliegt, was sie weiter präsent sein lässt.
Bianchi reiht in ihrem Vortrag viele Geschichten aus Literatur, Kunstgeschichte, Popkultur und realem Leben aneinander; das große, ganze Bild der Grausamkeit und Systematik hinter den einzelnen Schicksalen brennt sich von selbst ins Gedächtnis als Zuschauende und Zuhörende ein. Es sind Erzählungen wie die über den brasilianischen Torwart Bruno Fernandez de Souza, welcher seine Freundin ermorden und an seine Hunde verfüttern ließ und nach kurzer Haftstrafe von (vielen weiblichen) Fans vor dem Gefängnis feiernd empfangen wurde, oder die über eine Gemälde-Trilogie vom Künstler Sandro Botticelli über eine Geschichte von Nastagio degli Onesti, in welcher eine Frau in der Hölle gefoltert wird, indem sie auf ewig immer und immer wieder von ihrem abgewiesenen Verehrer gejagt und getötet wird. Neben den recherchierten Erzählungen berichtet Bianchi unter anderem aber auch, wie sie durch die Beschäftigung mit Baccas Schicksal in eine regelrechte Obsession mit jener gerutscht sei. Dass sie während der Recherche zu so vielen sexuellen Gewalttaten ab und an eine Art sexueller Erregung aufgrund von aufkommender Gewaltfantasien unterdrücken musste. Es zog sich auch das Thema der Frage nach der Existenz von Liebe durch den Abend, oder ob Katharsis (Reinigung, Heilung) nach ihrer eigenen sexuellen Missbrauchsgeschichte für sie möglich sei.

Ab und an wird Bianchi von ihrem Kollektiv mit einbezogen, dann legt das Team sie von einer Matratze in den Kofferraum des Autos, welches als Requisite auf der Bühne Anwendung findet, dann berühren sie sie, streicheln sie, reden auf ihren stillen Körper ein. Obwohl man weiß, dass Bianchi dies alles freiwillig tut und im Vorhinein weiß, was ihr Team mit ihr machen wird, kommt einem der Umgang befremdlich vor, dieses absolute ausgeliefert sein, auch uns, dem Publikum gegenüber, welches sie anders als ihr Team, zu dem sie eine starke Verbindung und Vertrauen hat, überhaupt nicht kennt. In diesem Sinne erfüllt einen folgende Passage mit einem besonders rohen Gefühl des Voreurismus, in welcher die Gruppe sie auf die Motorhaube des Autos hebt, sie ihrer Unterhose entkleidet und ihr eine Kamera in die Vagina einführt, deren Live-Videomaterial auf einer Leinwand im Hintergrund gezeigt wird. Will man den Vortrag verfolgen und verstehen, muss man auf den Bildschirm schauen, um dort die Übersetzung aus dem Portugiesischen lesen zu können. Mein Körper zieht sich zusammen. Nicht vor Ekel, weil ein Körper niemals eklig ist, sondern aus Abscheu, Beklemmung und Wut der Bilder und Assoziationen gegenüber, welche mein Kopf zeichnet: Ich stelle mir einen Vergewaltiger vor, wie er in das Innerste seines Opfers eindringt, physisch und seelisch, ihr ihren Willen und ihre Privatheit nimmt, unverhohlen, gewaltvoll.

Die Performance ist überbordend, überfordernd;

Wenn man meint, sich an einem roten Faden festhalten zu können, wird dieser einem sofort wieder aus den Händen gerissen. Es ist eine bewusste Mischung aus geskripteten Theater und unvorhersehbarer Performance, welche Irritationsmomente schaffen soll, wobei mir das Theater-eske, Geplante stellenweise zu sehr Überhang genommen hat, wodurch der Zufall der Performance kürzer kam. Dennoch war es eine sehr poetische und aufwühlende Vorstellung, in welcher die rabiate und so gebrauchte Ehrlichkeit Bianchis imponiert und in welcher man als Zuschauende viele Rollen einnimmt, als Täterin, Mitwisserin, Voreurin, letztendlich auch als Opfer. Dementsprechend lässt einen die Performance mit vielen Emotionen zurück. Und der Gedanke daran, dass Bianchi an diesem Festwochen-Wochenende drei Abende hintereinander Goodnight Cinderella zu sich genommen hat, ließen mich in Gedanken viel bei ihr sein.

Von Aliza Peisker

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19. Mai: Barocco

Ich sage schon seit einer Weile, dass der Einfluss all der ukrainischen und russischen Künstler*innen, die wegen dem Krieg in den Westen geflohen sind, die Szene der 2020-er Jahre stark prägen wird. Mark my words wenn du 2073 in irgendeinem TFM-Seminar zum Thema sitzt… Kirill Serebrennikov ist einer, über den dann wahrscheinlich jemand eine langweilige Präsentation halten wird. Langweilig wird das aber nur sein, weil bis dahin noch mehr Leute ADHD haben werden und weil die Idee eines Seminars mit lauten Präsentationen grundsätzlich nicht funktioniert. Denn Serebrennikov ist und bleibt ein äußerst spannender Künstler.

Cannes vs Wien

Während seine Musiktheater-Show Barocco im Burgtheater Wienpremiere feierte, wurde er in Cannes für seinen neuesten Film Limonov: The Ballad umjubelt. Der wird wahrscheinlich mehr Klarheit und Handlung bieten als Barocco, das eine zweieinhalbstündige Abfolge von musikvideoartigen Neubearbeitungen von Barockarien ist. Eine kleine Band um Musikdirektor Daniil Orlov zeigte, dass Barockmusik einfach nicht totzukriegen ist. Sie funktioniert als Latin-Pop, als Jazznummer, Rockballade, you name it. Inhaltlich war das Ganze eine Art Flow of Consciousness, mal ging es um Andy Warhol, oft um Feuer, konkret um Menschen, die sich anzünden, dann sang sich der großartige Tilo Werner als Clown mit Todesahnung irrwitzig durch den Zuschauerraum. Unsere Gehirne funktionieren nun einmal genau so sprunghaft und können mit so einer Dramaturgie sehr wohl was anfangen, wenn man sich darauf einlässt.

Unberechenbarer Flow of Consciousness

Die Show blieb über die ganze Zeit so unberechenbar abwechslungsreich, schrammte manchmal knapp am Kitsch vorbei und war immer wieder sehr bewegend. Nicht nur wegen der melancholischen Barockarien, sondern auch inhaltlich: Als Daniil Orlov gegen Ende mit seiner rechten Hand an einen gleichgültigen Polizisten gekettet Brahms‘ Bearbeitung für die linke Hand von Bachs herzzerreißender Chaconne spielte, erinnerte das an Serebrennikovs Zeit im Hausarrest in Russland, als er trotz ständiger Bewachung weiterarbeitete. Die eigene Heimat zu verlieren ist und bleibt tragisch, für uns ist es aber ein Glücksfall, dass Serebrennikov und all die anderen kreativen Köpfe aus dem Osten jetzt unsere Szene bereichern.

PS: Wer nur ein wenig barocken Herzschmerz braucht kann die Musik aus Barocco in dieser Playlist nachhören.

Von Dávid Gajdos

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18. Mai: Blutstück

Leonie Böhms Inszenierung von Blutstück bei den Wiener Festwochen ist keine ‘textgetreue‘ Adaption von Kim de l’Horizons Blutbuch, sondern ein Versuch, Körperlichkeit und Gemeinschaft im Theater zu finden.

Wie ist es ihr zu sein? Wie ist es in diesem Körper zu sein? Eine grundlegend metaphysische Frage, der die*der eine oder andere Philosoph*in schon ratlos gegenüberstand. Wahrscheinlich stellen sich Personen, die sich im Heteronormativen ganz wohl fühlen weniger diese Frage (Obwohl ich überzeugt bin, darin kann sich niemand wohlfühlen). In Blutstück inszenierte Leonie Böhm Kim de l’Horizons umjubeltes Blutbuch als Auftakt der Wiener Festwochen. Es geht es um die Körper, die aus Angst bestehen. Sie sind voll dieses Gefühls, weil sie außerhalb der Sprache existieren. Sie sind nicht greifbar, nicht „normal“ genug (ganz ehrlich wer hat sich dieses „normal“ ausgedacht?).

Auf der Suche nach Gemeinschaft 

De l’Horizon, im vollkommen dunklen Saal des Volkstheaters und lediglich im Schein eines Kerzenlichts, leitet mit kurzem Umriss der Stückhintergründe ein: Wer sich hier eine Adaption von dem 2022 Deutschen und Schweizerischen Buchpreis gekrönten Roman Blutbuch erhofft hätte, werde heute leer ausgehen. Die Autorenperson selbst sieht den Text als gescheitert an. Die Literaturwelt ist viel zu einsam für dem. Im Theater wird mit der Inszenierung ein neuer Versuch gestartet, eine Gemeinschaft zu finden. 

Getragen durch Improvisation aus dem Erfassen aus Körpern im Publikum („Da ist ein Ausgehkörper/Feierabendkörper/…“) beginnt Lukas Vögler einen Versuch, durch das Beschreiben und Erfassen anderer Körper zu erkunden, wie es ist einen Körper zu haben. Insgesamt stellen sich die Schauspielenden als Grossmeere, als Oma-Mutter-Kind-Mischwesen vor. Sie kommen aus der Ursuppe, die sich im entsprechend rötlich bunten Riesenleinwandtuch hinter der Grossmeeren erhebt. Das Bühnenbild, das zuerst schlicht erscheint, verwandelt sich mitten in der Aufführung in eine aufblasbare Hügellandschaft samt Penisbaum (Bühne: Zahava Rodrigo).

Scheiße in den Adern

Falls die Erwähnung des Phallus schon zu viel war, ist die sich durchziehende Fäkalsprache die Krönung in Leonie Böhms Inszenierung. „Ich zieh mir den Finger aus dem Arsch“, heißt es nicht nur einmal. Der Finger hält die „ganze Scheiße“, die in den Körpern, in den Adern ist, fest. Wie die Scheiße darein gekommen ist, wollen die Grossmeere wissen. Sie treffen auf einen Ritter, viel helfen kann dieser nicht, denn der Ritter dient lediglich als Vorspeise bis die Spielenden in einem Berührungskanon in gegenseitig zarten Küssen versinken. Sie erleben ihre Körper und können gar nicht genug von Körpern kriegen. Wie kam es also zu dieser Angst? Wie ist diese ganze Scheiße in diese Körper gekommen? Den Ansatz einer Antwort findet sich in Blutstück.

Von Lucie Mohme

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17. Mai: Ausrufung der Freien Republik

Revolution oder Volksfest? Pussy Riot, Bipolar Feminin, Jelinek und Co bei der Ausrufung der Freien Republik Wien, sowie ein Zwischenfall und was Milo Rau und Fuzzman im Nachhinein darüber denken.

Knapp 100 Maskierte mit Flaggen auf der Bühne, dahinter eine Lichtshow auf der Rathausfassade, davor trotz des kalten Post-Regenwetters 35 000 Zuschauer*innen: Die langersehnte Eröffnung der ersten Saison von Milo Raus Festwochen aka die Ausrufung der Freien Republik Wien war optisch eine beeindruckende Angelegenheit. Und inhaltlich? Ein Balanceakt zwischen echter Revolution und nachgespielter Schweinrevolte. Die zwischen den musikalischen Acts eingespielten Botschaften von linken Aktivist*innen aus dem brasilianischen Regenwald oder aus dem Nordirak waren so echt wie ermutigend, die gereimte Ansprache der Königin der Macht war einfach nur slaaay und Diana Burkot von Pussy Riot rührte zu Tränen, als sie davor warnte, wie schnell Demokratie durch einen oppressiven Gewaltstaat ersetzt werden kann.

Stark war auch der Auftritt von Bipolar Feminin: Frontfrau Leni Ulrich warnte davor, dass der Text gewaltvoll sein würde. Tatsache, sie sang „Mit euren Schwänzen / Überschreitet ihr all meine Grenzen … / Ich töte euch alle“. Bei manchen überschreitet das vielleicht eine Grenze, die Menge hat’s aber geliebt.

Fake-Flaggen und ein Banner mit einer konkreten Botschaft

Es gab dann auch Momente, die wieder in die ernüchternde Realität zurückführten, zur Tatsache, dass es doch nur eine Festivaleröffnung und keine echte Revolution war. Die Ansprache von Kulturstaatsrätin Veronica Kaup-Hasler war eine übliche Politiker*innenrede, sie sprach von Festwochen und nicht von der Freien Republik. Und all die Fahnen, die auf der Bühne geschwenkt wurden, repräsentierten mit ihren generischen Farben nichts Konkretes. Außer einem Banner mit der Aufschrift MIR IN SVOBODA PALESTINCEM (Laut ChatGPT bedeutet das auf Slowenisch Frieden und Freiheit den Palästinenser*innen), das in der Fernsehaufzeichnung das erste Mal bei Minute 43:25 eindeutig sichtbar wird und dann eine Weile lang ungestört aufgehalten wurde.

Milo Rau stand gerade neben dem ukrainischen Theatermacher Stas Zhyrkov und war dabei, dessen berührende Botschaft über die russische Bombardierung seiner Heimatstadt Odessa und die Bedeutung von „Nie wieder“ für ihn als Juden zu übersetzen, als Herwig Zamernik aka Fuzzman auf die Bühne kam und ihn unterbrach. In der Freien Republik dürfe jeder Botschaften anbringen, dafür müsste der junge Herr mit dem Banner aber wissen, dass er damit auch in irgendeiner Form für ein Terrorregime stehen würde. Rau versuchte scheinbar etwas im Stress die Situation zu schlichten und zum Statement von Zhyrkov zurückzukehren. „Ich glaube die Botschaft von Stas spricht auch darüber und es heißt ja Frieden in Palästina“. „Oh Frieden, Entschuldigung“ meinte Fuzzman und lief wieder weg. Rau übersetzte dann die Botschaft Zhyrkovs, der während des ganzen ruhig stehenblieb. Die Szene war wie ein Spiegelbild der globalen Aufmerksamkeit, die zwischen den Kriegen in der Ukraine und im Gaza-Streifen hin- und hergerissen wird.

Laut Festwochen 35 000 Anwesende vor dem Rathaus /// Franzi Kreis (c)

In der Fernsehaufzeichnung sieht man danach nur den großartigen Voodoo Jürgens singen, vor Ort sah man aber, wie Rau und noch jemand in der Deckung einer der riesigen Fake-Flaggen versteckt mit der Banner-Person diskutiert, wonach das Banner verschwand. Warum es nicht mehr gezeigt werden durfte, obwohl nur der Wunsch nach Frieden draufstand, erklärte uns am Samstagmorgen Milo Rau: „Es war eine Person, die zur Erstürmung der Bühne mitgebracht wurde - gehört nicht zum Rat oder Chor, aber ein netter Typ. Natürlich gibt es klare Grenzen in der Freien Republik, hier wurde keine auch nur annähernd berührt. Wie haben dann nach 10 Minuten den Mann gebeten, das Plakat wieder runterzunehmen. Es war das einzige auf der Bühne, wir haben absolut bewusst keine textlichen (visuellen) Statements auf der Bühne angebracht, für was auch immer und so richtig sie auch sein mögen. Zudem war dieses für fast alle Menschen unverständlich (außer dem Wort Palestine), also dadurch leider problematisch.“

Statements von Milo Rau und Fuzzman

Fuzzman, musikalischer Leiter des Abends und Autor der Hymne der Freien Republik, erklärte die Situation in einem Statement an Bohema so: „In heiklen Zeiten wie diesen hätte auf so einem Banner „Frieden für Palästina, Israel, Ukraine und die ganze Welt!“ stehen müssen, dann wäre es im Sinne der ausgerufenen freien Republik gewesen. So war es nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich missverständlich und einseitig. Nicht nur für mich, sondern für alle Anwesenden. Als jemand dann versucht hat, dem jungen Mann sein Banner zu entreißen, bin ich eingeschritten.“

Nach der ganzen Angelegenheit war die Stimmung erstmal irgendwie weg, erholte sich spätestens, als Mateja Meded verkündete: „Fotzenschleimpower lässt sich nicht aufhalten“ Paula Carolina rockte die Bühne mit ihrer Berlinhymne Schreien! und die Statements von Sibylle Berg und Elfriede Jelinek (leider nur per Video) waren mindestens so iconic wie erwartet. Zum Schluss stimmten wir alle gemeinsam die neue Hymne der Republik an, in guter Revoluzzer*innen-Manier. War der Drahtseilakt zwischen echter Revolution und bierigem Volksfest gelungen? Man entscheide selbst. Hoffentlich wird der Indikator nach den Wiener Prozessen ein noch eindeutigeres Ergebnis anzeigen.

Von Dávid Gajdos