Bohema Magazin Wien

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Girls with Guns

Die Text- und Musikcollage Calls of Duty: Jeanne d’Arc am Volkstheater Wien widmet sich tötenden Kämpferinnen. Wo liegen die Grenzen zwischen Projektionen und realem Hass?

© Marcel Urlaub

Ein Gaming-Stuhl steht auf der Bühne der Dunkelkammer, der kleinen Spielstätte im Volkstheater. Darauf sitzt die Influencerin Lucy (gespielt von Hasti Molavian), blickt in ihre Handykamera und begrüßt ihre Follower*innen zu einem Livestream des Ego-Shooter-Computerspiels Calls of Duty: Jeanne d’Arc. Im Spiel schlüpft sie in drei Leveln nacheinander in die Rolle verschiedener historischer Kämpferinnen. Ziel ist es, möglichst viele Gegner zu töten. Die Szenen des Spiels werden auf panoramaartig angeordnete Leinwände projiziert, sodass das Publikum gemeinsam mit der Spielerin in die verschiedenen historischen Settings eintauchen kann (Videoart und Gamedesign: Lukas Rehm).

Das erste Level führt in den Zweiten Tschetschenienkrieg. Die Projektionen zeigen die Ruinen eines zerstörten tschetschenischen Dorfes. Während eines Überfalls durch das russische Militär müssen Spielerin und Publikum miterleben, wie die Familie der Spielfigur brutal ermordet wird. Als die Animation vom Video einer realen Rede Putins, in der er von der „Anti-Terror-Operation“ in Tschetschenien spricht, unterbrochen wird, vermutet Lucy zunächst einen Glitch. Bald steigert sich Lucy immer weiter in ihre Rolle hinein und erschrickt zunächst, als die erste Rachefantasie aus ihr herausbricht. Der Sprachduktus der Gamerin verändert sich schlagartig und sie spricht einen Monolog aus Schillers Jungfrau von Orleans in die Handykamera.

In seinem 1801 uraufgeführten Drama verarbeitet Schiller die reale Geschichte von Jeanne d’Arc, die im 15. Jahrhundert die französischen Truppen gegen England anführte. Mit 19 wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt, wurde sie posthum zur Märtyrerin, Heiligen und französischen Nationalheldin stilisiert. Auch in Schillers Jungfrau von Orleans erscheint sie als tragische Heldin, die sich für ihre moralischen Überzeugungen opfert und einen „ehrenhaften“ Tod stirbt. Die historische sowie künstlerische Rezeption hat Jeanne d’Arc zur weiblichen, moralgetriebenen Kämpferin schlechthin erhoben. Auch die Theaterfigur Lucy gibt sich schließlich mit dem Willen, auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen, ihrer Rolle als rächende Kämpferin und damit dem Blutrausch, hin.

Computerspiel, Theaterspiel und der nicht so spielerische Ernst der Realität werden ununterscheidbar.

Im zweiten Level übernimmt Lucy die Rolle einer Peschmerga-Kämpferin, die sich gegen den IS zur Wehr setzt. Das dritte Level führt ins 19. Jahrhundert und erzählt von der afghanischen Nationalheldin Malalai von Maiwand. Die Verbindung der drei historischen Figuren mit Jeanne d’Arc wird nicht nur durch Zitate aus Schillers Jungfrau von Orleans hergestellt. Auch in der Musik-(Theater-)Geschichte erfuhr der Jeanne-d’Arc-Stoff große Beliebtheit und wurde unter anderem von Tschaikowski und Verdi zu Opern verarbeitet. Komponist Christopher Scheuer hat für den Abend am Volkstheater eine Collage aus Musikzitaten erstellt, in der er die Arien Jeanne d’Arcs mit elektronischen Beats unterlegt. Schauspielerin Hasti Molavian verfügt über eine klassische Gesangsausbildung und steigert sich nicht nur schauspielerisch, sondern auch sängerisch in den Arien über Liebe, Verlust und Rache in die Affekte der tötenden Frauen hinein.

Weibliche Kämpferinnen, männliche Interpretationen

Die Text- und Musikzitate aus verschiedenen Verarbeitungen der Geschichte von Jeanne d’Arc verdeutlichen, wie aus weiblichem Leid und Hass immer wieder – meist durch Männer – patriotische und heroisierende Narrative geformt wurden. Die dargestellten Frauen changieren zwischen Subjekt und Objekt von Gewalt: als Täterinnen und Opfer, aber auch als Figuren, die sich zwischen Selbstbestimmung und der Interpretation ihrer Handlungen in von Männern gemachten Repräsentationen befinden. Die Frage, wer in diesen Darstellungen Objekt von Gewalt bleiben muss und wessen Widerständigkeit als moralisch handelndes Subjekt anerkannt wird, ist eine politische.

Mit der Verschränkung von Ego-Shooter-Ästhetik, historischen Fakten, Schillers Dramentext sowie musiktheatralen Fassungen des Jeanne-d’Arc-Stoffes hat sich Regisseur Paul-Georg Dittrich viel vorgenommen. Der Verweis auf die drei realen Beispiele tötender Frauen legt die Brutalität der Gewalt frei, die sowohl Schillers „romantischem Trauerspiel“ als auch Ego-Shooter-Computerspielen zugrunde liegt und in diesen fiktionalisiert, in Narrative geformt und konsumierbar gemacht wird. Indem die identitätsstiftende „Heldin“ weniger zelebriert, als in ihrer Ambivalenz befragt wird, wird dem Publikum viel zugemutet. Aber gerade in dieser Komplexität und Vielschichtigkeit gelingt es, weibliche (Gegen-)Gewalt kritisch zu thematisieren, anstatt stumpfe Narrative zu reproduzieren.

Zum Ende des Livestreams erscheinen in der Projektion Hasskommentare von Lucys User*innen. Einer lautet: „Halte dich von politischen Sachen einfach fern.“ Diese Forderung nach dem vermeintlich Unpolitischen erscheint hinsichtlich einiger Aussagen des realen Gaming-, Theater- und nicht zuletzt Opernpublikums vertraut. Dem Publikum, das am Ende der Vorstellung ratlos in der Dunkelkammer sitzt, wird keine Hoffnung auf einen Ausweg aus der Gewalt angeboten. Stattdessen wird aufgezeigt, auf welch komplexe Weise Computerspiel und Theaterspiel mit der politischen Realität verwoben sind.