Bohema Magazin Wien

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Fußball-EM 2024
 - inszeniert von der Grasnarbe bis ins Wohnzimmer

Was hat das Trikot des DFB mit dem Kampf um medialen Einfluss in Österreich zu tun? Und womit kollidiert Symbolpolitik in der Fankurve?

Das offizielle Greenkeeping-Arbeitsbuch zur Qualitätssicherung für Stadionrasen der Deutschen Fußball Liga, sieht im Einklang mit offiziellen FIFA-Empfehlungen eine maximale Rasenschnitthöhe von 25-28 mm vor. Auch die Farbe des Rasens, die Dichte der Grasnarben, so wie Scherfestigkeit, Ballrollverhalten und viele weitere Detailaspekte des Rasens sind nach verschiedenen Normen vorgegeben, um dem deutschen Fußball ein einheitliches Bild und Spielverhalten zu verleihen. 


Es sind Informationen wie diese, die Fußball schon auf der mikroskopischsten Ebene als Inszenierung offenbaren, eine Inszenierung, die von dem Rasen bis zu dem medialen Großereignis reicht, dass ein Event wie die Europameisterschaft 2024 in Deutschland darstellt. 
Dieser Text soll der Versuch einer groben Skizze zur Beleuchtung der politischen Dimensionen sein, die bei einem Event dieser Größenordnung unweigerlich starke Auswirkungen auf die Gesellschaft zeigen, bzw. spezifische soziale Dynamiken hervortreten lassen, die sonst im Verborgenen bleiben – oder zumindest weniger deutlich zum Ausdruck gebracht werden.

Spielfeld

In einem Interview mit dem Standard erklärt die Geschäftsführerin eines niederösterreichischen Fußballrasenunternehmens, dass ihr Fußballrasen in einer speziellen Quarzsand-Düne in der Slowakei angezüchtet werden muss, um die Qualität zu erreichen, die sich das Unternehmen seit 110 Jahren auf die Fahne schreibt. Zudem werden dem Rasen unterschiedliche Grassorten untergemischt, um nicht nur die spezielle Textur zu gewährleisten, sondern auch, um den farblichen Vorgaben der Norm zu entsprechen. 
Die Pflege der Rasen ist nur ein Aspekt des komplexen Gesamtbildes, das ein Fußballstadion ausmacht. So, wie der Rasen in Deutschland nur maximal 28 mm hoch sein darf, dürfen die Linien der Spielfeldmarkierungen maximal 12 cm breit sein und so, wie die beiden Mannschaften am Feld Trikots mit möglichst differenzierter Farbgebung tragen müssen, sind die Fans, die in denselben Trikots ‚aufmarschieren‘, explizit vordefinierten Plätzen im Stadion zugewiesen – den Fankurven hinter den Toren. 


All diese strengen Regeln, denen ein Fußballstadion und -Spiel unterworfen sind, tragen maßgeblich zum Verlauf eines Fußballspieles bei: War der Boden zu rutschig oder die Linie zu dünn? – Übertritt des Goalkeepers beim Elfmeter und Wiederholung der Situation.
Ergeben die beiden Farben der Mannschaften zufällig genau die Farben der ukrainischen Flagge wie beim EM-Spiel Rumänien vs. Ukraine? – Die Zusehenden, die Kommentierenden und die Berichterstattenden werden es bemerken und sich darüber austauschen. 
Dies sind nur wenige Beispiele dafür, wie das komplexe Regelwerk, welches Spielzeit, Auswechselanspruch, Faulspiel, Elfmeter, Abseits und dergleichen bestimmt, das Grundgerüst der Dramaturgie bildet, das sich gleichzeitig in Relation zu den unterschiedlichen Räumen im Stadion (Mittelfeld, Strafraum, Fünf-Meter-Raum, Coach-Zone) laufend verändert. 


Dies ist natürlich nicht der einzige Spieldefinierende Faktor. Etwas überspitzt könnte man sagen, die Regeln seien der Quarzsand-Düne des dramaturgischen Rasens – und zur Pflege braucht es auch hier Pflegerinnen und Pfleger, die das finale Ergebnis entscheidend mitbestimmen: Die Unparteiischen. 


Es sind die interpretativen Entscheidungen dieser Unparteiischen, der Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, die den Spielen – neben der Spielweise der Mannschaften – die deutlichste, individuelle Note verleihen und die nicht zuletzt für die größten Kontroversen bei den Zusehenden sorgen und die einen weiteren Kernaspekt eines Fußballspieles offenlegen: die Kontingenz – also der Faktor des Ungewissen, der Unentscheidbarkeit. Denn während ein Museum zum Beispiel etwas bereits Bestehendes präsentiert und kontextualisiert oder ein Theaterstück einen konkreten Handlungsablauf wiederholt, ist die Inszenierung eines Fußballspieles besonders durch die Produktion eines zuvor unbekannten Ergebnisses bestimmt. Dieser Produktion, sei es Sieg, Niederlage oder Unentschieden, ist alles bis auf die letzte Grasnarbe untergeordnet.

Anstoß

Ein Fußballspiel ist demnach immer ein Wechselspiel aus einem, von den Regeln abgesteckten Raster und dem Zufall, der die Hohlräume des Rasters befüllt. Dieser Zufall ist auch bei Betrachtung der Tribüne identifizierbar, die in den Stadien der Europameisterschaft immer rund um das Spielfeld herum angeordnet ist. Von dort aus können Zusehende die Teams anfeuern, zu denen sie helfen. 


Dieses scheinbar triviale Merkmal hat große Auswirkungen auf das Erlebnis. Denn dasselbe Stadion weist bei unterschiedlichen Spielen komplett andere Farbschemata auf, da die Anordnung, sowie Kleidung der Fans darüber bestimmt, was auf der Tribüne zu sehen ist. 
Neben der visuellen Darbietung der Fangemeinde, ist besonders der auditive Faktor von besonderer Bedeutung; die Fans feuern die Teams an – und jenes Team mit größerer Unterstützung in den Rängen, erlebt diese folglich auch stärker auf dem Spielfeld – sei es durch Jubel, Klatschen, Fangesänge, Trommeln, oder Auspfeifen der gegnerischen Mannschaft, wie man es bei dieser EM zum Beispiel am prominentesten von den Fans aus Rumänien und der Türkei gesehen hat. Da es sich bei den Fans um zehntausende Menschen handelt, sollte die Wirkung dieser Praktiken auf das Spiel und die Moral der Spielerinnen und Spieler nicht unterschätzt werden. 


So ist es auch kein Zufall, dass individuelle Fanreaktionen in der medialen Gestaltung der Spiele gleichwertige Aufmerksamkeit finden wie zum Beispiel die Wiederholung eines Torschusses. In den Stadien sind große Bildschirme angebracht, die das Livebild der TV-Übertragung wiedergeben, die nach UEFA-Regie das Geschehen einfangen (oder wie im Beispiel von Flitzern, Pyrotechnik oder ‚unangenehmer‘ Politik auch aussparen). Und konstant sind Bilder der Zusehenden untergemischt, die auf das Geschehen reagieren, die feiern, bangen – oder die Kamera bemerken und winken. Die Tribüne wird somit zur Bühne und weist die Selbstinszenierung als inhärenten Bestandteil des Ereignisses Fußball aus, der auch am Spielfeld seinen Ausdruck findet. 


Denn so, wie sich Fans auf der Bühne inszenieren und Teil der Gesamtinszenierung werden, gibt es auch im Spielverlauf Intervalle, in denen sich die Möglichkeit einer Selbstinszenierung für die Spielerinnen und Spieler ergibt – am prominentesten sind hier neben der Wappenschau mit Nationalhymne wohl die Torjubel.


Man könnte argumentieren, dass es im Fußball neben der festgeschriebenen Regeln Konventionen gibt – sozusagen eine Fußballkultur; ein Verhalten, dass nicht vorgegeben, aber dennoch Teil fast jedes Spieles ist. Dazu gehört es, nach einem Tor eine theatralische Handlung, eine Geste zu setzen, die die Freude über das Tor ausdrückt und die gleichzeitig ein Moment der gebündelten Aufmerksamkeit und so eine geeignete Bühne für symbolische Aussagen über das Spiel hinaus bietet. Es ist wohl der deutlichste, unmittelbarste Ausdruck von Inszenierung am Spielfeld und bildet eine Schnittstelle zwischen Fußball als lokales und Fußball als mediales Ereignis, das gleichsam einen inszenierten Raum öffnet und sich über physische Räume hinwegsetzt. 


Was ich damit meine, möchte ich anhand des kontroversesten Torjubel-Beispiels dieser EM erläutern, über das Der Standard berichtete: Der türkische Verteidiger Merih Demiral, erhob bei seinem zweiten Treffer gegen Österreich am 2. Juli 2024 – dem Jahrestags eines rechtsextremen Brandanschlags in der Türkei – beide Hände zum sogenannten Wolfsgruß; ein Handzeichen der rechtsextremen Bewegung Ülkücü, deren Anhänger Graue Wölfe genannt werden. Die Symbolik der Gruppierung, darunter das Handzeichen, ist in Ländern wie Österreich verboten. Der Spieler reagierte auf die Kritik mit einer Zurückweisung der Anschuldigungen und meinte, es stünde für seinen Stolz, Türke zu sein.

Halbzeit

Momente wie diese steigern die Komplexität des Fußballs als kulturelles Phänomen enorm. Denn was innerhalb eines Spieles ein bloßer Ausdruck der Freude sein mag, stellt im größeren, gesellschaftlichen und politischen Diskurs eine vollkommen andere Bedeutung dar: Hier kommt nationale Repräsentation, die Inszenierung der ‚eigenen‘ Nationalität ins Spiel – auch geschichtliches Verständnis und das Ringen um Deutungen spielen sich plötzlich dort ab, wo meist auf den scheinbar ‚unpolitischen Raum‘ Fußball plädiert wird. 
Der Jubel führte zu einer Sperre Demirals für zwei Spiele, was wiederum die Wut der türkischen Fans auf sich zog, die die sozialen Medien mit der Symbolik der Grauen Wölfe überfluteten, womit die Gruppe eine noch breitere Aufmerksamkeit bekam, als es ohnehin bereits der Fall war. 


Zur selben Zeit nutzten Österreichische Fans den Vorfall, um für einen Aufstieg Österreichs zu argumentieren, die das Spiel gegen die Türkei verloren hatten und damit eigentlich ausgeschieden waren – Fans, die zum Spiel gegen Polen Banner mit Slogans der Identitären Bewegung ausrollten und in den Rängen „Ausländer raus“-Gesänge anstimmten und deren Niederlage gegen die Türkei eine regelrechte Hasswelle gegen Österreicherinnen und Österreicher türkischer Abstammung in den sozialen Medien hervorrief.
Dies ist nur ein Beispiel der nationalistischen Strömungen, die durch die Selbstinszenierungen im Fußball und besonders bei Nationencups hervortreten können und die den Diskurs um ein Event wie die Europameisterschaft einfärben.

Schlussphase

Gleichzeitig müssen es auch nicht solcherart symbolpolitische Fälle sein, die dem Fußball eine politische Dimension geben. Besonders spannend an dieser Tendenz aber ist, dass sich der Großteil dieser Auseinandersetzung in separaten medialen Räumen abspielt – sozialen Medien, Zeitungen, Radio, Fernsehen, etc., bzw., sich überhaupt auf eine mediale Inszenierung des Geschehens vor Ort stützt – den Live-Übertragungen der UEFA. 


Während Fußball für sich bereits zu einem hohen Grad inszeniert ist, sind es nun diese Übertragungen, die den Spielen eine weitere Ebene der Inszenierung beifügen. Sie erst geben dem zuvor besprochenen Zufall des Fußballspieles eine neue Ordnung, sie bestimmen den Blick; was gesehen wird, was ausgelassen wird – was ausgeschlachtet wird und was im Verborgenen bleibt. Und dieser Live-Mitschnitt, der von der UEFA gestaltet ist, liefert das Rohmaterial, das wiederrum einer weiteren Inszenierung unterzogen wird – der Aufbereitung der verschiedenen Fernsehsender. 


Hierbei ist besonders der Fall Österreich brisant, da die Europameisterschaft dort auf zwei Fernsehsender aufgeteilt übertragen wurde – im öffentlich-rechtlichen ORF und im Privatsender Servus TV, der vom Red Bull Konzern betrieben wird. Es sind also wiederrum zwei unterschiedliche, inszenierte Räume, die durch den Unterschied umso klarer die Inszenierung hervortreten lassen. Einige Beispiele: 


Während die Spiele der Ukraine im ORF von einer Reportage darüber begleitet wurde, was die Europameisterschaft für ein Land im Krieg bedeutet und welche nationalen, sowie persönlichen Dimensionen damit in Verbindung stehen, beschränkte sich der Servus TV auf ein paar wenige Kommentare der Moderatoren zu dem Thema, die überdies von stichigen Randbemerkungen à la „Die Ukraine wird schon nicht aufgeben – das tut sie schließlich auch abseits des Spielfeldes nicht“ begleitet waren. 


Überdies führte der Fakt, dass der ORF sich aufgrund mangelnder Mittel keine vollständigen Übertragungsrechte sichern konnte und deshalb keine Spiele der Nationalmannschaft übertragen durfte, zu einer Instrumentalisierung der rechtsextremen FPÖ, die zwischen den Zeilen argumentierte, dass dies ein weiterer Grund sei, den ORF abzuschaffen, da er sich offensichtlich nicht um nationale Interessen bemühe. 


Dass ein Konzern wie Red Bull über vollkommen andere Mittel und Interessen verfügt, bleibt von einem Hetzer wie Herbert Kickl natürlich ausgeklammert – es macht jedoch deutlich, wie die Inszenierung der Europameisterschaft einen politischen Rahmen öffnet und gleichzeitig spiegelt, in dem verschiedenste Interessen um Aufmerksamkeit und Einfluss ringen.

Abpfiff

Dieses Ringen nach Aufmerksamkeit findet wohl in den Werbungen seine Kulmination, die, zwischen den Spielen und in den Spielpausen geschalten, einen substanziellen Anteil der Sendezeit einnehmen und auch direkt am Fußballrasen entlang des Spielfelds das Stadion zieren. Hier tauchen plötzlich Nationaltrikots und Farben in jedem Spot eines jeden Konzerns auf und spielen mit dem gespiegelten Szenario des fußballbegeisterten Wohnzimmers, das eben nur durch Produkt X so begeistert sein kann, das beim Mitfiebern nicht fehlen darf, während die UEFA mit einem Hashtag #FootbALL für Inklusion wirbt und unter anderem Visit Qatar, Hisense, Vivo und BYD als Hauptsponsoren führt – wenn kein Zufall, der sich aus dem Regelwerkt ergibt, so zumindest ein moralischer Widerspruch. 


Derart schlägt sich also die Brücke von Grasnarbe zu Wohnzimmer, von Stadiontribüne zu Sofa und verändert durch die vielen schichten der Inszenierung hindurch selbst den unmittelbaren Raum der eigenen vier Wände; vor allem dann, wenn man wie in der Werbung ein Trikot der bevorzugten Mannschaft trägt.

Referenzen:

DFB, Fußball-Regeln 2023/2024, 2023

DFL, Qualitätssicherung für Stadionrasen. Arbeitsbuch für das Greenkeeping, Frankfurt/Main: DFL 2018.

Leitner, Lukas, „ORF ‚mega peinlich‘ – Kickl wütet über EM-Übertragung“, 26.06.2024, https://www.heute.at/s/orf-mega-peinlich-kickl-wuetet-ueber-em-uebertragung-120044735, 11.07.2024.

Mark, Oliver, „Servus TV und die Fußball-EM: Das flutscht“, 18.06.2024, https://www.derstandard.at/story/3000000224824/servus-tv-und-die-fussball-em-das-flutscht, 13.07.2024.

Petz, Ingo, „Grün machen: Wie schaut der perfekte Fußballrasen aus?“, 31.05.2016, https://www.derstandard.at/story/2000037492423/der-perfekte-fussballrasen-so-geht-gruen, 08.07.2024.

Der Standard, „Wolfsgruß: Uefa leitet Untersuchung gegen Demiral ein“, 03.07.2024, https://www.derstandard.at/story/3000000226902/demiral-feierte-em-tor-gegen-oesterreich-mit-wolfsgruss, 08.07.2024.

Der Standard, „Uefa sperrt Demiral nach Wolfsgruß für zwei Spiele – Aufschrei in der Türkei“, 05.07.2024, https://www.derstandard.at/story/3000000227193/uefa-sperrt-demiral-nach-wolfsgruss-offenbar-fuer-zwei-spiele, 11.07.2024.

UEFA, “UEFA EURO 2020 impresses with 5.2 billion cumulative global live audience“, 02.09.2021, https://www.uefa.com/news-media/news/026d-132519672495-56a014558e80-1000--uefa-euro-2020-impresses-with-5-2-billion-cumulative-globa/, 11.07.2024.