Grosze Klappe 10: Tinderiana à la française
Was in einer französischen Kleinstadt auf Tinder, Grindr und Co. läuft: Deprimiert durch Onlyfans-Businessfrauen swipen und warum sich der Ausflug ins oberflächliche Datinginferno trotzdem gelohnt hat.
Oops, I did it again, nach fünf (zumindest in der vergoldeten Retrospektive) glücklichen Beziehungsjahren hab‘ ich mich in die Tinderhölle geschmissen. Zum Glück nur für drei Wochen, als Open-Experience in Frankreich. Ich downloadete die App mit zitternden Junkiehänden schon am Bahnhof. Offiziell, weil mich ein juicy Sommerregen eh zum Warten verdammte, deep down wollte ich aber so früh wie möglich Datingroulette spielen. Ist das nicht genau das, was uns so reizt an diesen Scheißapps? Das Gefühl, im Game zu sein, in jedem Moment die Ganz Große Liebe oder den Besten Fuck Des Jahres zu erwischen? In meinem Fall hoffentlich nur letzteren, meine Große Liebe wartete währenddessen zuhause auf mich bzw auf Antworten von ihren heißen Bumblematches.
Bilder, von der Ex geschossen? Ein muss
Ich durchforstete schon im Zug meine ganze Galerie nach Bildern, auf denen ich heißer aussehe, wie in echt. War es nicht El Hotzo, der einmal postete, wie creepy es sei, dass alle halbwegs passablen Tinderbilder von der Ex geschossen wurden? In this day and age sind instagrammable Bilder von der Partner*in die Lovelanguage, ohne der jede Gen-Z-Beziehung zum Scheitern verurteilt ist. Meine hat offensichtlich eine Zukunft, denn diesmal stufte mich Tinder unverdient hoch ein. Das ist nämlich, was diese Menschenhandelsplattform macht, sie bewertet jeden Account mit einer Nummer, anhand dessen die Profile ausgesucht werden, die einem gezeigt werden. Kurzum: Wenn du nur fade Loser*innen gezeigt bekommst, findet Tinder dich hässlich. Eigentlich ein Kompliment, wenn ich es mir genau überlege…
Entweder hatte der Bodyshaming-Algorithmus einen ziemlichen Crush auf meine Bilder (besser gesagt auf das Auge meiner Freundin) oder in Frankreich tindern nur unfassbar schöne Frauen. Ich kam jedenfalls vor der geballten französischen Sexyness kaum dazu, nach links zu swipen. Die Kehrseite meines unverhofften Erfolges war, dass 50% meiner Matches zwar heiß aber dafür Onlyfans-Unternehmerinnen waren, deren einziges Ziel der Vertrieb ihres Adult-Contents war. Sollen sie gerne machen, wenn man nur drei Wochen im Game ist, sind solche verschwendeten Matches aber blöde.
Auch sonst war meine Swipe-Experience ziemlich frustrierend. Menschen anhand weniger Bilder zu beurteilen ist ein Scheiß, noch dazu ziemlich sehr Objetifizierend, das ist mittlerweile hoffentlich Allgemeinwissen. Wenn man nur Bettgeschichterln möchte, ist das zwar weniger tragisch und auch sonst kann man diesen oberflächlichen Onlineraum auch als eine Möglichkeit sehen, sich random Leute zu angeln, um sie dann im echten Leben kennenzulernen. Ärgerlicher ist, dass der Weg zu einem Date ein extrem steiniger ist.
Shadowaccounts und ‘Ich-Schaue-Nur-Nervensägen‘
Die Frauen, die nicht ihre Nacktbilder verkaufen möchten, sind zum einen Shadow Accounts, die die Apps schon längst gelöscht haben, weil sie einen Typen gefunden haben, von dem sie für ein-zwei Jahre denken, er sei nicht so ein Arsch, wie alle anderen, oder einfach aus Frustration, weil sie gerafft haben, dass es eben doch alles Fuckboys sind. Zum anderen swipen sie pro Tag nur zwei Männer nach rechts oder wurden nur von ihren Freundinnen auf Tinder gezwungen und ‚schauen nur‘.
Und doch hat sich diese Erfahrung gelohnt. Eine ganze Nacht hindurch mit einer wildfremden Person zu schreiben, nachzuempfinden, wie Balzac sich in seine Frau Briefe schreibend verliebt hat, nur um dann beim persönlichen Treffen den Gut-gegen-Nordwind-Vibe auf einen Schlag zu verlieren, weil man in Person überhaupt nicht kompatibel ist, ist das nicht lustig? Oder mit meinem wackligen Französisch stundenlang zu deeptalken, nach all den Jahren der in einer warmen, sicheren Beziehung die Aufregung von ersten Dates zu genießen, sich daran zu erinnern, wie anders jeder Körper ist, einfach am Phänomen Tinder teilzunehmen (so nervig das auch ist, ist das immer noch ziemlich zeitgeisty). Und vor allem, sich selbst kennenzulernen. Man sieht sich selbst am besten durch die Augen anderer, wie wahr das ist, weiß ich erst jetzt.
Nach drei Wochen war es dann aber ein befreiendes Gefühl, diese blöde pinke Flamme in den kleinen Mülleimer oben auf meinem Bildschirm zu ziehen. Wenn jemand Schwierigkeiten hat, am Abend mit Honigbroten aufzuhören, ist es kein Wunder, dass ein über Jahre hochgezüchteter Algorithmus einen in eine lästige Abhängigkeit treibt. Ich musste mir nach einer Weile verbieten, auf offener Straße zu swipen. Wenn ich kleiner Junkie mich nicht mit harter Hand selbst gestoppt hätte, wäre ich einfach dagesessen, mitten in einer zuckersüßen französischen Altstadt und hätte meinen Daumen wundgeswipet.
Haben es die Erfinder*innen des French Kiss noch drauf?
Bald nicht nur auf Tinder, sondern auch auf Hinge (in Frankreich ein Gutmensch-Hub, niemand hat Lust auf One-Night-Stands), auf Bumble (liebe Frauen, wenn ihr schon matcht dann schreibt doch bitte auch was, am besten mehr als ‚hey‘, auf den anderen Apps bemühen wir Würstchen uns doch so sehr) und Feeld (eine in Frankreich sehr beliebte App für kinky Stuff, da liefert das Land die Klischees, die man von den Erfinder*innen des French Kiss erhofft) und auch mal auf Grindr (nein, meine unsichere Bisexualität werde ich doch nicht mit horny 60-Jährigen Franzosen oder durchtrainierten Fuckboys erkunden, die mich nachts vollspammen).
Offiziell gab ich dermaßen Vollgas, weil ich doch nur drei Wochen hatte. Die Matches häuften sich zunächst nur langsam und der Perfektionist in mir wollte das Maximum aus dem ganzen Abenteuer herausholen. Außerdem war mein Rezept, in den Chats schnell zu Lieblingssongs zu kommen. Je mehr Matches, desto mehr random Musik also. Teilweise auch sehr gute bis sehr abgefahrene Sachen, französischer underground Bedroom Rock oder herzzerreißende Klassiker aus Algerien, wie diese Nummer.
Doch eigentlich war es die kalte Sucht, die mich immer wieder in dieses schräge Paralleluniversum trieb. Und es gruselt mich ein bisschen, wenn ich daran denke, wie tief ich da eingetaucht bin. In Maßen macht es vielleicht Spaß und wenn man im Gegensatz zu mir ernsthaft auf Partner*innensuche ist, muss man die 15,6 Tonnen an Nachteilen vielleicht mal in Kauf nehmen. Aber ich sage nur, aus irgendeinem Grund in Jesus-Style: Selig sind die Kinder und die, die ihre regulären Fickpartner*innen und ihr Leben generell nicht online suchen. Sagte er und verpisste sich auf Instagram…