Bohema Magazin Wien

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Kirschgarten Hanami

Eine tragische Komödie in moderner Inszenierung, die dem Originaltext aber vollständig treu bleibt: Tiago Rodrigues bringt den Kirschgarten (en français) inklusive Isabelle Huppert im Rahmen der Wiener Festwochen ins Museumsquartier.

Regisseur Tiago Rodrigues und Stühle, ganz so viele gab es auf der Bühne nicht /// Christophe Raynaud de Lage (c)

“I’ve always wanted to „deal with Chekhov”, so Rodrigues beim Publikumsgespräch am 26. Mai nach der Wiener Premiere, „He already did, what I would have wanted to do”.

Der Kirschgarten, oder in der französischen Version La Cerisaie, ist Tschechows letztes Stück, das er 1903, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb. Das Stück wurde, zu Tschechows großem Verdruss, von frühen Kritiker*innen oft als Drama fehlinterpretiert. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um eine sehr tragische und gesellschaftskritische Komödie, in deren Mittelpunkt soziale Umbrüche der (russischen) Gesellschaft, die Unvereinbarkeit von alter und neuer Zeit sowie die Blindheit vor dem sich längst vollziehenden Wandel thematisiert werden. Versinnbildlicht wird dies durch die hochverschuldete Familie der Gutsbesitzerin Andrejewna Ranjewskaja (Isabelle Huppert) und ihres Bruders Gajew (Alex Descas), deren Gut mit geliebtem Kirschgarten zwangsversteigert werden müssen.

Drei oder vier Akte?

Der Kirschgarten ist ein Stück in vier Akten, dessen vierter Akt aber viel eher wie ein Epilog erscheint, da die eigentliche Geschichte rund um den Garten und seinen endgültigen Verkauf bereits mit dem dritten Akt beendet ist. In Rodrigues Inszenierung ist die Bühne am Ende des dritten Aktes bereits vollständig von den Schauspieler*innen leergeräumt worden, die Dekors, v.a. Stühle und drei wunderbare eiserne, baumähnliche Kronleuchterinstallationen stehen links gestapelt. In dieser Leere wird der vierte Akt nun durch Adama Diop, der die Rolle des Kaufmanns Lopachin spielt, mit direktem Publikumskontakt folgendermaßen eingeleitet: „Das Stück hätte hier eigentlich zu Ende sein können, aber Tschechow hat sich dazu entschlossen, einen 4. Akt zu schreiben. Wir werden unser Bestes geben“.

Ähnlich war bereits auch der erste Akt von Diop eingeleitet worden, der damit beginnt, dass auf einen Zug gewartet wird. Unter Vorwand des bald eintreffenden Zuges wird uns das Stück in einigen Sätzen kurz vorgestellt, um dann direkt in den Originaltext zu wechseln. Die Akte 1, 2 und 3 werden somit durch den direkten Kontakt zum Publikum wie eingerahmt und somit eindeutig vom 4. getrennt, der, nunmehr auf fast leerer Bühne, einer Kontemplation der Schönheit der Poesie Tschechows gleichkommt.

Bunte Besetzung um Isabelle Huppert /// Christophe Raynaud de Lage (c)

Metaebene

Für den Cast des Kirschgartens wählte Rodrigues Schauspieler*innen mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen, die er, wie er im Publikumsgespräch betonte, nicht für bestimmte Rollen, sondern für das Stück als Ganzes eingeladen hat. Die spezifische Rollenverteilung hat aber tatsächlich eine Art Metaebene eröffnet, die Rodrigues – zumindest seinen eigenen Worten nach – so nicht direkt beabsichtigte: Der Umstand, dass die Rolle des Lopachins, Sohn ehemaliger Leibeigener und Sklaven und mittlerweile wohlhabender Kaufmann und Ersteigerer des Kirschgartens, von einem Schwarzen Schauspieler gespielt wird, transplantiert die Handlung aus Russland gedanklich in die USA und hatte für mich starke Parallelen zu Tarantinos Django Unchained. Während die ethnische Vielfalt der Schauspieler*innen demnach nicht dabei hilft, das Stück besser zu verstehen, hat sie dennoch einen unleugbaren dramaturgischen Wert.  

Licht, Leuchter, Livemusik

Neben drei auf Schienen befestigten, beeindruckend ästhetischen und kirschbaumähnlichen Kronleuchterinstallationen – in Tschechows Text werden sowohl Kronleuchter als auch Kirschbäume erwähnt – bestand das Bühnenbild ausschließlich aus roten und grauen Stühlen, die mal umgestellt oder gestapelt, mal herumgeschmissen oder zur Seite geräumt wurden. Mithilfe von Scheinwerfern und Farbtemperatur wurden die Tageszeiten simuliert. Eine Liveband, die en permanence Teil des Bühnenbildes war und die ebenfalls von Tschechow erwähnt wird, verstärkte die vorherrschende Stimmung maßgebend. Auch leitete sie jeweils in den nächsten Akt über; der Vorhang kam nicht zum Einsatz.

Und wir, das Publikum, wir waren der Kirschgarten und somit sowohl außerhalb des Handlungsrahmens, außerhalb des Fensters des Gutshauses, als dennoch essenziell miteinbezogen. Zu uns, zu uns in die Bäume wurde sehnsüchtig geschaut und gesprochen; die vierte Wand war demnach gänzlich inexistent.

Immer jemand im Hintergrund /// Christophe Raynaud de Lage (c)

Isabelle und der Rest?

Was mir sehr gut gefallen hat, war, dass es auf der Bühne keine Hierarchisierung der Rollen bzw. Interpret*innen gab; ein Umstand, der bei einer solchen Starbesetzung nicht unbedingt selbstverständlich ist! Dies steht wohl mit Rodrigues kollaborativen Theateransatz in Verbindung, mit dem dieser ab 1997 in Antwerpen in Berührung kommt und der zur Grundlage seines Schaffens wurde. Die Schauspieler*innen befanden sich stets alle auf der Bühne, saßen im Hintergrund oder am Rand, und so galt die ungeteilte Aufmerksamkeit nicht immer nur den Sprechenden. 

Tiago Rodrigues, zukünftiger Leiter des Festival d’Avignon, kehrte, nach drei eigenen, ebenfalls bei den Wiener Festwochen gezeigten Produktionen (By Heart (2016), Sopro (2019) und Catarina e a beleza de matar fascistas (2021)), mit dem für Avignon‘21 inszenierten Kirschgarten und Starschauspielerin Isabelle Huppert zurück nach Wien und konnte stark überzeugen. In gespannter Erwartung auf weitere Produktionen!