Bohema Magazin Wien

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„Literatur wird lustigerweise immer gefährlicher“

Von der Popliteratur über Ein-Satz-Werke bis zum Österreichischen Buchpreis: Xaver Bayer über mafiöse Verstrickungen bei Literaturpreisen und psychologische Tricks, mit denen Autor*innen ihre Bücher verkaufen wollen.

Xaver Bayer, der Beobachter /// Bohema, Jung und Jung (c)

Xaver Bayer hat sich auf denkbar unwahrscheinliche Weise im deutschsprachigen Literaturbetrieb etabliert: Begann er seine Schriftstellerlaufbahn als Verfasser von Romanen, die an die Popliteratur Easton Ellisʼ, Krachts und Stuckrad-Barres anschließen (Heute könnte ein glücklicher Tag sein, 2001), die in der Frage nach der Fortsetzbarkeit von Leben und Erzählen die Tradition des (Anti-)Bildungsromans mit der Reflexion auf die Narrativik von Videospielen kurzschließen (Weiter, 2006), und die die konstitutive Irrationalität sozialer wie auch psychischer Ordnungen erschließen (Die Alaskastraße, 2003) , so widmet er sich seit dem Erzählband Die durchsichtigen Hände von 2008 – mit Ausnahme des hundertseitigen, aus nur einem Satz bestehenden Textes Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen (2011) – ausschließlich der Kurz- und Kürzestprosa. Ausgerechnet für einen solchen Erzählband, Geschichten mit Marianne, erhielt Bayer 2020 den Österreichischen Buchpreis. Seine selbstgewählte Rolle als Außenseiter (und das bedeutet seiner Poetik gemäß immer auch: als Beobachter) des literarischen Feldes will er damit allerdings nicht preisgeben – das wurde im Gespräch mit Bohema deutlich.

Bohema: Wie erlebst du als freier Schriftsteller, der bewusst auf die Inszenierung der eigenen Person in sozialen Medien verzichtet und sich auch nicht von einer Agentur vertreten lässt, den gegenwärtigen Literaturbetrieb?

Xaver Bayer: Es war eigentlich ein schönes Vorzeigebeispiel an meiner Person, dass ich den Österreichischen Buchpreis gewonnen habe, obwohl ich weder eine Agentur habe noch auf den sogenannten Social Media tätig bin. Man sieht also, es ist nicht unbedingt notwendig. Das Problem sehe ich darin, dass Arbeit, die eigentlich der Verlag machen sollte, das heißt die Bewerbung des Buches, immer mehr von den Autoren (Xaver Bayer wünscht ausdrücklich kein Gendern, Anm. der Red.) übernommen wird. Das raubt einem nicht nur Zeit, die man fürs Schreiben verwenden könnte. Tatsächlich ist es ja so, dass es, wenn man etwa zu einem größeren deutschen Verlag kommt und schon eine gewisse Zahl an Followern vorweisen kann, auch wahrscheinlicher ist, genommen zu werden. Dass hier nur noch kaufmännisch-ökonomische Gründe im Vordergrund stehen, ist mit meinem Literaturempfinden nicht vereinbar.

Außerdem verbringen wir ohnedies schon genug Zeit vor dem Bildschirm und ich will Leute nicht dazu animieren, noch mehr Zeit im Internet zu vergeuden, anstatt ein Buch zu lesen.

B.: Haben Literaturpreise in diesem Klima irgendeine Aussagekraft über die ästhetische Qualität eines Textes oder handelt es sich bei der Vergabe von Preisen um Inszenierungen, die lediglich das ökonomische Kalkül verschleiern, das Juryentscheidungen zugrunde liegt?

X. B.: Es gibt beides. Bei einigen Preisen steht sehr wohl die literarische Qualität im Vordergrund. Viele aber sind Teil eines fast mafiös anmutenden Netzwerks von Agenturen, dem Feuilleton, der geldgebenden Seite und den Preisverleiher. Wenn man sich ansieht, wer in den Jurys sitzt, dann ist das manchmal schon sehr durchschaubar – da stehen dann einfach marktechnische Gründe dahinter. Ich habe das Gefühl, dass diese Gründe immer mehr überwiegen. Ich kenne auch Autoren, die bei einer Abwerbung gehört haben, dass sie auf jeden Fall einen bestimmten Preis kriegen, wenn sie zu einem bestimmten Verlag wechseln. Andererseits hat es das, denke ich, immer gegeben, vielleicht fällt es derzeit nur stärker auf, weil die Zahl der mediokren Texte, die künstlich hochgejubelt werden, so frappant gestiegen ist.

B.: Du siehst also, auch was die Vergabe von Preisen betrifft, noch Freiräume im Literaturbetrieb, die nicht gänzlich im Ökonomischen aufgehen?

X. B.: Die gibt es schon noch, aber ich habe das Gefühl, dass sie wie alle anderen Freiräume in unserer Gesellschaft immer mehr am Schwinden sind und Gefahr laufen, kommerzialisiert zu werden – ein bisschen so wie der öffentliche Raum. Das wäre ein guter Anlass, neue Freiräume zu schaffen, auf welche Art auch immer.

B.: Haben somit auch ästhetische Theorien wie die der Frankfurter Schule, die Kunstwerke fokussieren, die sich der vollständigen Eingliederung in den Markt widersetzen, noch Bestand?

X. B.: Ich glaube, das wird nie aussterben.

Es wird immer Menschen geben, die etwas an den herrschenden Verhältnissen auszusetzen haben; und zurecht.

Es wird ihnen nur immer schwerer gemacht beziehungsweise fehlen einem Großteil der Rezipienten die Voraussetzungen oder das Wissen um das Geschehen. Es wäre wichtig, die Hintergründe aufzuzeigen.

B.: Kann die Literatur in diesen schwindenden Freiräumen überhaupt noch subversiv wirken?

X. B.: Ja, immer mehr. Literatur wird lustigerweise immer gefährlicher – von anderer Seite als man es eigentlich gedacht hat. Wenn man bedenkt, dass es solche Phänomene gibt, wie Triggerwarnungen oder die übertriebene politische Korrektheit, die ja teilweise absonderliche Blüten treibt, dann scheint es, dass gerade einer Literatur, die nicht ‚safe‘ und ‚nice‘ und eine Kuschelwohlfühlliteratur ist, auch wieder ein gewisser Grad an Gefährlichkeit anhängt.

B.: Das ist eine interessante Perspektive, zumal man ja auch umgekehrt behaupten könnte, dass Literatur im postfordistischen Kapitalismus, der selbst ästhetisch geworden ist, insofern er die Logik künstlerischer Arbeit gezielt aneignet, immer weniger Raum hat, tatsächlich subversiv zu wirken.

X. B.: Das stimmt natürlich. Aber angesichts der überwältigenden Masse an Büchern, die eindeutig nach Kalkül entstanden sind, wird das, was ich als eigentliche Literatur verstehe, gefährlicher. Sie hat für mich wieder eine Chance, das als Friktionspunkt zu nehmen und andere Wege einzuschlagen und nicht in diesem Sumpf unterzugehen. Ich denke, einen großen Anteil an dieser immens langweiligen Gleichförmigkeit der publizierten Werke haben auch Literatur- und Schreibschulen, in denen man zu einem großen Teil lernt, wie man sich gut vermarktet und wie man schreiben muss, damit es ankommt. 

B.: An welchen Merkmalen dieser Texte lässt sich deiner Ansicht nach festmachen, dass sie nach Kalkül entstanden sind?

X. B.: Wenn etwas darauf angelegt ist, sich möglichst gut zu verkaufen, dann werden psychologische Tricks angewendet – auch in den Texten selbst. Man hört zum Beispiel: „Verwende möglichst auf der ersten Seite schon direkte Rede, das hält die Leser bei der Stange.“ Nicht, dass es nicht ganz großartige Bücher gibt, in denen schon auf der ersten Seite direkte Rede vorkommt. Beziehungsweise – und darauf bin ich erst nach meinem letzten Buch gekommen, das war nicht meine Absicht – gibt es Untersuchungen, dass sich Bücher mit Namen im Titel besser verkaufen. Vorbild sind auch da die Amerikaner mit den Schreibwerkstätten. Momentan sieht man das ja bei den meisten Serien, die einen ja in ihrer ständigen Wiederholung des Immergleichen nur noch anöden. Zum Beispiel der inflationäre Einsatz von Cliffhangern – es ist mittlerweile schon so durchschaubar, aber teilweise auch gut gemacht, sodass man ihnen auf den Leim geht, da muss man auch aufpassen. Bei Büchern ist das genauso, nur noch nicht so verbreitet.

B.: Aber es ist grundsätzlich ein medienübergreifendes Phänomen?

X. B.: Das ist ein gesamtgesellschaftliches, globales Problem. Das ist der real existierende Neoliberalismus, der in alle Winkel kriecht, und dem gilt es, etwas entgegenzusetzen. Und das wird nicht durch eine love-and-peace-attitude gehen, auch wenn es wichtig ist, dass man diese im Herzen trägt, und es wird auch nicht durch eine Revolution gehen, auch wenn es wichtig ist, bestimmte Arten des Widerstandes zu pflegen, sondern es wird nur durch klare gesetzliche Umstrukturierung beziehungsweise Umstrukturierung von Gesetzen gehen. Das ist ein Knäuel von Knoten, das es zu entwirren gilt, und das muss ganz klar über die Legislative gehen.

B.: Sind möglicherweise formal experimentelle Texte eher dazu in der Lage, subversiv zu wirken, oder ist das eine avantgardistische Binsenweisheit?

X. B.: Auch die Avantgarde ist teilweise schon im Mainstream aufgegangen. Ich lese gern radikal experimentelle Texte, weil sie einem manchmal auch eine neue Art von Erkenntnis verschaffen. Aber oft bleibt das nur einem Nischenpublikum vorbehalten. Ein anderer Punkt, der mir in den letzten Jahren aufgefallen ist: dass sich der allgemein vorgeschriebene Pragmatismus auch in der Literatur niederschlägt. Unter anderem im Autofiktionalen, das schon eine Zeit lang Mode ist, wo nach dem Motto „Literatur muss auch zu etwas gut sein“ Themen wie Krankheit oder Depression oder Herkunft verhandelt werden. Das ist nicht vorrangig Aufgabe von Literatur, auch dahinter sehe ich ein Zeichen der Zeit. Es sind ja mittlerweile auch viele Menschen, wie ich immer sage, therapiegeschädigt, sodass das auf fruchtbaren Boden fällt.

B.: Was bedeutet therapiegeschädigt?

X. B.: Man hat, wenn man mit Menschen spricht, die sich in Therapie befinden, oft das Gefühl, dass sie nur noch in so einem Therapiesprech kommunizieren, und es wirkt fast so, als wären sie von ihrem Therapeuten abhängig. Nicht, dass es nicht Therapien gibt, die wichtig sind und die helfen können. Aber ich denke, da wird auch viel Schindluder getrieben. Manche Wunden heilen nur, indem man nicht dauernd an ihnen kratzt.

B.: Noch einmal zurück zum Thema Erzählverfahren: In einer hier in Wien entstandenen Diplomarbeit wird dein Debutroman Heute könnte ein glücklicher Tag sein aus dem Jahr 2001 in die Nähe der Pop-Literatur gerückt – kannst du mit dieser Perspektive etwas anfangen?

X. B.: Ja, logisch, das stimmt ja auch. Denn in der Zeit, in der das Buch herausgekommen ist, waren ja bereits Christian Krachts Faserland und Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum auf den Markt gekommen und ich kann mich erinnern, das Buch von Stuckrad-Barre gelesen zu haben, bevor ich meinen Roman geschrieben habe.

Was aber nicht heißt, dass ich von Stuckrad-Barre oder Kracht abgeschrieben habe, sondern wir haben alle drei von Bret Easton Ellis abgeschrieben.

Das waren eigentlich die Anfänge, das war Jay McInerney in Amerika und eben Bret Easton Ellis mit Unter Null und so. Die habe ich vor der Arbeit an Heute könnte ein glücklicher Tag sein gelesen. Das war damals schon eine befreiende Lektüre, weil, wenn ich mich recht erinnere, habe ich die Literaturszene als unglaublich erstarrt und langweilig erlebt, mit atavistischer Avantgarde, würde ich fast sagen. Ich sehe das heute etwas anders, aber damals habe ich das so empfunden, deswegen war die Pop-Literatur so befreiend und erfrischend zu lesen. Dass sie dann, wie alles, schnell wieder manieriert geworden beziehungswiese in Belanglosigkeit verschwunden ist, ist vielleicht auch ihrem Geist geschuldet. Aber ja, mein erstes Buch kann man sicher dazuzählen. Nur finde ich ja, dass man sich immer irgendwie weiterentwickeln muss, und von den wenigsten damals gefeierten Pop-Literaten ist heute noch etwas zu hören.

B.: Auch in Form von Zitaten aus Songtexten, die du deinen früheren Romanen voran- oder nachgestellt hast, hat Pop offenbar eine Rolle für dein Schreiben gespielt…

X. B.: Ja, das war damals halt angesagter und wird mittlerweile etwas übertrieben. Ich bin davon abgerückt, was nicht heißt, dass man nicht auch Motti verwenden kann.

Aber genauso diese elendslangen Danksagungen – bitte, spart sie euch einfach, es interessiert niemanden, bedankt euch persönlich bei der jeweiligen Person, das ist ja sonst nur peinlich.

B.: Um auch über den Entstehungsprozess deiner Texte zu sprechen: Du hast einmal gesagt, dass du deine Texte zunächst handschriftlich verfasst und erst in einem zweiten Schritt abtippst, ist das nach wie vor der Fall?

X. B.: Ja, das ist immer noch so. Die Bewegung der Hand mit dem Schreibstift und dem Blatt Papier oder dem Einsteckbüchlein erscheint mir im Moment als das mir Angemessene. Die ersten zwei Bücher habe ich in eine alte mechanische Schreibmaschine gehackt, das war auch ganz gut, weil es meinem damaligen Habitus oder meiner Lebensweise mehr entsprochen hat. Jetzt ist es für mich eben gut, mit der Hand zu schreiben und in einem zweiten Schritt in den Computer zu übertragen, da passieren dann noch Veränderungen. Der Nachteil, nur in den Computer zu tippen, wäre, dass man da zu schnell mit dem Löschen ist. Abgesehen davon blenden mich die Bildschirme – und das ist auch in übertragenem Sinn zu verstehen.

B.: Arbeitest du zuhause oder an öffentlichen Orten?

X. B.: Ich arbeite an öffentlichen Orten.

B.: Weil du die Hintergrundgeräusche brauchst?

X. B.: Ich weiß nie, was ich brauche, deswegen mache ich mich auf die Suche danach.

B.: Das heißt, du gehst morgens nach draußen und suchst einen Ort zum Schreiben?

X. B.: Ja, so ist das. Gleichzeitig sind auch die restlichen Zeiten des Tages potenzielle Schreibzeiten, aber morgens, vormittags sind so gut wie immer Schreibzeiten, die ich mir nehme.  

B.: Bewahrst du die ersten, handschriftlichen Anläufe zu deinen Texten auf?

X. B.: Nein, ich veranstalte immer wieder Autodafés, in denen ich sie verbrenne. Das habe ich mir bei Goethe abgeschaut. Nein, aber ich mache das programmatisch, weil ich keinen Nachlass hinterlassen will. Mir geht dieses Nachlassgetue auf die Nerven. Es reicht mir, wenn meine Bücher da sind.

B.: Deine Romane scheinen sich oft aus einzelnen Eindrücken, Beobachtungen, Segmenten und Sequenzen zusammenzusetzen, die sich weder einander noch einem umfassenden Plot unterordnen lassen. Artikuliert sich hier ein Misstrauen gegenüber großen, sinnstiftenden Erzählungen?

X. B.: Nicht prinzipiell, mir schwebt immer wieder ein Epos oder sowas vor. Wenn ich jetzt sage, dass mich das aber in der Ausführung langweilt, kann man als Kritiker sagen, „sein Atem ist halt nicht lang genug dafür“, aber irgendwie scheint die kürzere Form für mich in dieser Zeit die adäquatere zu sein. Das heißt aber nicht, dass ich die andere Form ausschließe. Sie hängt auch immer als eine Möglichkeit neben mir ab (lacht).

B.: Ist konventionelles Erzählen heute wieder in der Krise?

X. B.: Vielleicht in dem Sinn, dass in den meisten veröffentlichten Büchern dermaßen konventionell erzählt wird, dass es mich dazu bringt, sie nach den ersten zwei, drei Seiten wieder zuzuschlagen.

B.: Woher kommt dieses Verlangen nach konventionell erzählten, realistischen Texten?

X. B.: Weil es das am leichtesten Konsumierbare ist und was leicht zu konsumieren ist, lässt sich am besten unter die Leute bringen. Ich würde auch sagen, dass viele von ihnen in Bezug auf Literatur von der Schule her nicht ganz ideal ausgebildet worden sind. Wenn man wie ich das Glück hat, dass man einen Deutschlehrer hatte, der auch die Wiener Gruppe durchgenommen hat, dann merkt man, es gibt noch ganz andere Sachen. Ich hab‘ vor einiger Zeit wieder Bücher Marguerite Duras zur Hand genommen. Es ist unfassbar, wie großartig diese Bücher sind, wie radikal. Ich hege den Verdacht, dass vielen jungen Leuten, die in ihrer safen Wohlfühlblase existieren, so etwas Unbehagen bereitet, also dass die praktisch schon eine Panikattacke bekommen, wenn sie diese Bücher zur Hand nehmen und das – das deutet meiner Meinung nach auf eine Unterforderung von Anbeginn hin.