Mehr „Lost“ geht nicht
Ob in der Arktis oder Wüste: Fotograf Gregor Sailer riskiert sein Leben für den perfekten Schnappschuss. Die Ausstellung Unseen Places im Kunst Haus Wien zeigt surreale und unzugängliche Orte am Rande der menschlichen Zivilisation.
Es schneit, es ist kalt und der Wind peitscht. Gregor Sailer bewahrt trotz minus 50 Grad seine Ruhe. Er befindet sich im Norden Norwegens an der Grenze zur Russischen Föderation. Was viele nicht wissen: Seit Jahren marschieren hier die Militärs beider Länder auf, die Lage ist äußerst angespannt. Der Anblick dieses Konflikts bleibt den meisten Menschen jedoch verwehrt.
Solche Orte sind es, die das Interesse des österreichischen Fotografen wecken, dem das Kunst Haus Wien nun die Ausstellung Unseen Places widmet. Seit Jahren faszinieren ihn die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Implikationen von Architektur sowie die Veränderung von Landschaft durch den Menschen. Sein Interesse führt ihn an unwirkliche Orte: verlassene Flüchtlingsstädte in der Sahara, Gated Communities der Reichen in Argentinien oder Gefechtsübungszentren in den USA. Diese für eine Handvoll Menschen zugänglichen Orte sind das bizarre Resultat globaler Machtkämpfe. Sailers Arbeiten hinterfragen die absurden wirtschaftspolitischen und ökologischen Auswüchse unserer heutigen Gesellschaft.
Besonders die umfangreiche Bildserie The Polar Silk Road bringt so manchen Menschen zum Erstarren. Die Aufnahmen mehrerer Expeditionen in die Arktis zeichnen – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Bild vom Ende der Welt. Schmelzende Eisdecken und gespenstische, in Eis gehüllte Bauten, die kaum ein Mensch zu Gesicht bekommt. Ebenso menschenleer ist die Messerschmitthalle in den Tiroler Alpen. Die Werkgruppe The Box gibt Einblicke in das geschlossene Bergwerk, welches zur Zeit des Nationalsozialismus dem Bau von Kampfflugzeugen diente. In Closed Cities schafft es Gregor Sailer mit seiner Kamera in nach außen abgesperrte Gebiete. Von der Bohrinsel im Kaspischen Meer bis zur Gated Community El Tigre in der Nähe von Buenos Aires. Die abgeriegelte Stadt der Reichen verdeutlicht die Schere zwischen Arm und Reich in Südamerika und ist an Absurdität kaum zu überbieten.
Ganz im Sinne Sergei Eisensteins zeigt Sailer in der Serie The Potemkin Village Fake-Städte aus aller Welt. Aufnahmen von chinesischen Nachbauten europäischer Städte sowie militärischen Übungsstätten, die arabischen Dörfern ähneln, sind in diesem Eck des Hundertwasser Museums zu betrachten. Frei nach der britischen Sitcom Mehr Schein als Sein werden in Russland filmsetartige Häuserfassaden aufgestellt, um vor einem Besuch des Präsidenten Wladimir Putin den Schein eines bildhübschen, wohlhabenden Russlands zu wahren.
Mit Unseen Places gewährt Gregor Sailer bis zum 19. Februar 2023 Einblicke in eine unbekannte Welt. Einblicke in Orte, die vom Menschen geschaffen wurden, jedoch nur für die wenigsten zugänglich sind. Einblicke in die Folgen des Klimawandels, politischer Konflikte und sozialer Ungleichheit.