Bohema Magazin Wien

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„Jeder Mensch wünscht sich, dass alles gut wird.“

Elisabeth Steinkellner ist eine der interessantesten jugendliterarischen Stimmen Österreichs. Ihre Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, ihre Protagonist*innen sind jung und divers, lebensbejahend und unvollkommen. Mit Bohema hat sie über jugendliche Sehnsüchte und den Stellenwert der Kinderliteratur gesprochen.

Elisabeth Steinkellner im Gespräch mit Anna Wiesner /// Roman Benkovic (c)

Bohema: Elisabeth Steinkellner, es kommt kaum noch eine kinder- und jugendliterarische Vorlesung ohne Erwähnung deiner Bücher aus. Wie fühlt sich dein Erfolg an?

Elisabeth Steinkellner: Ich denke eigentlich nicht wirklich darüber nach, ob ich erfolgreich bin oder nicht. Ich arbeite an meinen Projekten und verwirkliche meine Ideen und freue mich jedes Mal, wenn ein Verlag ein Manuskript annimmt. Aber natürlich geht es nicht an mir vorbei, wenn ich zum Beispiel Preise bekomme, das sind ganz wichtige Anerkennungen, auch im finanziellen Sinn. Und es ist gut zu spüren, dass ich meinen Weg weiter gehen kann. Dass ich nicht ins Nichts hinein schreibe, ohne Resonanz zu bekommen.

B: Während Jugendliche schon früh mit der sogenannten Allgemeinliteratur in Berührung kommen (müssen), ziehen Erwachsene das Lesen von Jugendbüchern oft gar nicht erst in Betracht. Warum?

S: Ich denke, viele meinen, die Kinder- und Jugendliteratur wäre weniger anspruchsvoll. Zu einfach, zu klischeebehaftet, zu betulich. Ja, es gibt solche Kinderliteratur, wie es ja auch in der Allgemeinliteratur unterschiedliche Ausrichtungen und literarische Ansprüche gibt.

Aber da ist eben auch diese Fülle an Kinder- und Jugendbüchern, die thematisch, stilistisch und sprachlich absolut überzeugen und nicht weniger literarisch sind als Bücher für Erwachsene.

Natürlich ist die Kinder- und Jugendliteratur anders als die Allgemeinliteratur, man hat das Alter der Zielgruppe beim Schreiben im Kopf, ihren Erfahrungshorizont. Aber den künstlerischen Anspruch an die eigenen Texte darf man nicht herunterschrauben.

B: Deine Jugendromane zeigen Protagonist*innen auf Selbsterprobung. Die Suche nach der eigenen, durchaus auch queeren Identität wird zum zentralen Handlungsmotiv. Dabei zeigst du immer nur Momentaufnahmen der Veränderung. Wie wichtig ist dir die Unabgeschlossenheit deiner Protagonist*innen?

S: Sehr wichtig, denn das Leben geht ja ständig weiter und unsere Entwicklung auch. Bei Lesungen hätten die Jugendlichen oft gerne, dass es ein Ende gibt, am besten ein Happy End. Mir ist zwar wichtig, zum Schluss den Ansatz einer positiven Entwicklung zu zeigen, aber ich möchte nicht das Gefühl von Abgeschlossenheit vermitteln, so nach dem Motto: einmal so, immer so.

B: Ich würde ja meinen, dass die Frage nach dem eigenen Ich in jedem Lebensalter eine existentielle ist. Was ist so besonders schwierig an der Phase der Adoleszenz oder, positiv formuliert, so besonders reizvoll für dich als Autorin?

S: Es ist eine Phase, in der man sich die Frage nach der eigenen Identität zum ersten Mal bewusst stellt. Wer bin ich, wer will ich sein? Das finde ich sehr spannend. Generell passiert vieles zum ersten Mal: Man beginnt zu verstehen, was es bedeutet, für das eigene Leben Verantwortung zu übernehmen. Das sexuelle Begehren erfährt einen großen Bedeutungsschub. Die Ablösung von der Familie.

Es ist ein großer Gefühlsrausch.

B: Einen medialen Gefühlsrausch hat auch dein von der Kritik vielgelobter Roman Papierklavier hervorgerufen, den die Bischofskonferenz nicht mit dem katholischen Kinder- und Jugendliteraturpreis 2021 auszeichnen wollte, wohl auch weil die Protagonist*innen nicht der konservativen Kernfamilie entsprechen. Wie sehr drängt sich bei dir weiterhin der Wunsch auf, diverse Wirklichkeiten abzubilden?

S: Es ist mir ein riesiges Anliegen, eine Welt zu haben, in der Diversität, sei es jetzt geschlechtliche, sexuelle oder kulturelle, als etwas Positives erlebt wird. Aber beim Schreiben von Papierklavier war es nicht mein Antrieb zu sagen: „Jetzt schreibe ich ein Buch, in dem die Diversität gefeiert wird.“ Beispielsweise Carla, die genderfluide Person in meinem Roman, ist einfach während des Schreibens aufgetaucht, die war nicht von vornherein geplant. Es ist nicht mein Zugang, dieses oder jenes Thema aufs Tapet zu bringen und dabei eine gewisse Werthaltung zu vermitteln. Und es gibt ja auch nie die eine, richtige Darstellung eines gerade brisanten gesellschaftspolitischen Themas.

B: Das klingt einleuchtend.

S: Ja, ich habe das auch beim Papierklavier gemerkt: Es wurde nach der Preisablehnung von manchen plötzlich nur noch als Transgenderbuch gesehen. Leider wird gerade in der Kinder- und Jugendliteratur ein Buch oft auf ein Thema reduziert, sei es in der Vorankündigung oder dann in den Besprechungen. Aber die meisten Bücher greifen ja eine Vielfalt an Themen auf und lassen sich nicht so recht auf ein Schlagwort reduzieren. Und wenn man Jugendliteratur so themenbezogen denkt, lastet natürlich der Druck auf dem einzelnen Buch, dass es als Repräsentant herhalten muss und eine möglichst allgemeingültige oder richtige Darstellung dieses Themas liefern soll. Das ist unmöglich.

Es braucht immer eine Vielfalt an literarischen Darstellungen und so eben auch eine Vielfalt an Büchern, die das Thema Diversität aufgreifen, ob nun vordergründig oder am Rande.

B: Ich habe eigentlich den Eindruck, dass Kunst, die geschlechtliche Vielfalt verhandelt, gerade sehr boomt. Ist die Suche nach der geschlechtlichen Identität virulenter geworden als noch vor 30 Jahren oder wird sie nur offener verarbeitet?

S: Geschlechtliche Diversität hat es bestimmt immer schon gegeben, so wie auch Diversität im sexuellen Begehren. Zu unterschiedlichen Zeiten wurde eben unterschiedlich damit umgegangen. Subkulturen gab es wohl auch schon immer, aber jetzt ist geschlechtliche Diversität zu einem Thema geworden, das in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Und jetzt sind alle gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Das ruft natürlich die unterschiedlichsten Reaktionen hervor. Auch Ablehnung und Aggression gegenüber der stärkeren Sichtbarkeit von Vielfalt.

B: Vielleicht kann so manche*r von dir lernen: Wie näherst du dich Figuren an, die dir erstmal fremd erscheinen?

S: Ich trage meine Figuren immer sehr lange im Kopf herum, bevor ich einen Text niederschreibe. Ich muss sie erspüren und in mir die Anteile finden, die ich mit der Figur gemeinsam habe. Auch wenn das vielleicht jene Anteile sind, die bei mir ganz tief unten vergraben sind. Und oft verstehe ich meine Figuren erst zwei, drei Jahre nachdem mein Buch fertig geschrieben ist. Erst durch den Abstand kann ich besser benennen, was sie antreibt oder innerlich zerreißt. Vorher muss ich alles daran setzen, mit ihnen eins zu werden, und kann sie daher nicht objektiv betrachten.

Elisabeth Steinkellner strahlt /// Roman Benkovic (c)

B: Alois Prinz hat unlängst gemeint, dass die Menschen, die er einmal biografiert hat, für immer an seinem Esstisch sitzen werden. Ist das bei dir auch so?

S: Ja, das ist ein schönes Bild. Natürlich sind diese Figuren eher geisterhafte Erscheinungen, traumartig.

Als wüsste man nicht, ob man etwas wirklich erlebt hat oder nicht.

Jugendliche fragen mich bei Lesungen gerne, wie es denn jetzt weiter geht mit meinen Figuren, nach dem Ende, das ja in meinen Büchern meistens recht offen bleibt. Das ist wieder die Hoffnung auf ein Happy End, von der wir vorhin schon gesprochen haben. Leider muss ich mein Publikum dann enttäuschen, denn ich male mir nie aus, wie es mit meinen Figuren weitergehen könnte. Nachdem ich sie für eine gewisse Zeitspanne so intensiv begleitet habe, ziehe ich mich wieder zurück und lass sie ihrer Wege gehen.

B: Das Thema Happy End begegnet uns in diesem Gespräch nun schon zum zweiten Mal. Woher entspringt denn dieser jugendliche Wunsch nach einem Happy End?

S: Wir alle sind sicherlich stark medial geprägt, gerade was das Happy End in der Liebe betrifft. Die Medien präsentieren uns ja andauernd diese Verliebt-Verlobt-Verheiratet- Geschichten. Es soll die eine, große Liebe sein und wenn man die einmal gefunden hat, passt es für immer und ohne weitere Anstrengung. Aber generell betrifft diese Sehnsucht nach einem glücklichen Ende nicht nur Jugendliche. Jeder Mensch wünscht sich, dass alles gut wird. Ich halte das für eine ganz grundlegende menschliche Hoffnung.

B: Deine Protagonist*innen brauchen jedenfalls das Gegenüber, um sich selbst zu spüren. So etwa Simon und Antonia in Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen. Erst durch ihre Begegnung kommt Wichtiges in Gang. Wie groß ist unser pandemiebedingter Aufholbedarf diesbezüglich?

S: Groß. Wirklich, wirklich groß. Ich merke, dass bei mir nach zwei Jahren die Luft draußen ist.

Ich frage mich permanent: Wann können wir das jemals wieder aufholen?

B: Apropos aufholen: Als Rezipientin deiner Bücher staune ich immer wieder, wie scheinbar leicht du dich dort bewegst, wo Jugendliche heutzutage stehen, während die Politik immer nur hinterher zu hinken scheint. Haben es Schriftsteller*innen leichter?

S: Als Schriftstellerin, als Einzelperson, kann ich natürlich alles, was ich wahrnehme, sofort aufgreifen. Die Politik ist hingegen ein riesiger Apparat. Aber es ist sehr wohl auch eine Frage der Bereitschaft. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen werden teilweise auf politischer Ebene immer noch weniger ernst und wichtig genommen. Das hat man ja auch in der Pandemie gemerkt. Und nicht zuletzt macht sich die Haltung zu Kindheit und Jugend auch am Stellenwert der Kinder- und Jugendliteratur bemerkbar, die nach wie vor für viele nicht als echte Literatur gilt.

Zum Schluss noch kurz gefragt:

B: Auf einen Kuchen mit: Pippi Langstrumpf oder Hermine Granger?

S: Beides richtig tolle Figuren. Puh. Ein Dreierdate!

B: Erste Küsse sind wie: Zitroneneis oder Schokoladencreme?

S: Hmmm... Schokoladencreme.

B: Wo schreibt es sich besser: Im Nachtzug oder im Bahnhofscafé?

S: Im Bahnhofscafé. Obwohl... Ich brauche viel Ruhe zum Schreiben. Auch Musik im Hintergrund beeinflusst mich viel zu sehr. Also vielleicht doch eher im Nachtzug. Dann, wenn alle anderen schon schlafen.