Ode an die Orgel
… und an Wayne Marshall, der den großen Saal im Konzerthaus mit einem fulminanten Programm zum Beben gebracht hat. Ein Konzerttipp und zwei Hörbeispiele, um die Königin der Instrumente kennezulernen.
“Die Orgel ist wie ein ganzes Orchester; mit diesem Bewusstsein sollte sie gespielt werden.“ (Frei nach Wayne Marshall zu Beginn seines Konzerts)
Um dieser Prämisse gerecht zu werden, eignet sich die Orgel des Konzerthauses vielleicht wie keine zweite. Denn wo auf fünf Manualen, dem Pedal und in 9.000 Pfeifen ganze 116 Register erklingen, da wird auch das beste Symphonieorchester neidisch. Nicht umsonst ist sie damit eine der größten Konzertorgeln der Welt (!), bei deren Bau auf „die Verschmelzung der Bach-Silbermann`schen Mixtur- und Aliquotorgel mit dem altfranzösischen Typ ausgebauter Zungenchöre, bereichert durch die orchestralen Charakterstimmen“ geachtet wurde.
Ein Instrument? Eher ein Universum
Zu den klassischen Registern wie Prinzipalen und Rohrflöten gesellen sich dabei exotische Klangexperimente wie Aeoline, vox humana und Clairon harmonique. Spätestens bei Registern wie Cello, Posaune und Viola wird auch der Anspruch eines vollen Orchesterklangs, realisiert in einem einzigen Instrument, deutlich. (Allen Orgelbau-Fetischist*innen geht es hoffentlich noch gut). Dazu kommen selbstverständlich einige Sonderfunktionen und Spielereien wie Walzen, Schweller und diverse Koppeln, wodurch sich verschiedene Register und Manuale auf jede erdenkliche Weise kombinieren lassen und die Orgel auch dynamisch dem Orchester in nichts nachsteht.
Der von Marshall zu Anfang des Konzerts festgelegte Grundsatz zog sich wie angekündigt durch das Programm des ganzen Abends und wurde vom Interpreten konsequent umgesetzt. Wie es sich für einen souveränen Organisten gehört, eröffnete Marshall das Konzert nach einigen einführenden Worten mit einer eindrucksvollen Improvisation. Weiter ging es mit Werken von Andrew Ager, César Franck und der bekannten Sonate „Der 94. Psalm“ von Julius Reubke, wobei Marshall wortwörtlich alle Register zog und die symphonischen Qualitäten der Orgel mehr als deutlich machte. Der ein oder andere Hörsturz wird hierbei nicht zu vermeiden gewesen sein.
May I have the time please?
Nach der Pause musste sich der überaus sympathische Marshall kurz sortieren und hätte die angesetzte Toccata von Couchereau beinahe übersprungen, um direkt die große f-moll-Symphonie von Widor zu spielen, die für einige Zuhörer*innen vermutlich (zurecht) das Highlight des Abends darstellte. Mit Marshalls leichter Verwirrtheit ging es nach der grandios gespielten Symphonie noch weiter; denn scheinbar gab es hinter der Bühne keine Uhr, weshalb sich der Brite kurzerhand im Publikum nach der Uhrzeit erkundigen musste.
Da es anscheinend noch nicht zu spät für ihn war, folgte als krönender Abschluss erneut eine Improvisation des Organisten, die einen unterhaltsamen, musikalisch hochinteressanten und insgesamt wirklich gelungenen Abend beendete. Dabei hat es Marshall geschafft, den Saal im wahrsten Sinne des Wortes zum Beben zu bringen, gelegentlich aber auch eine erstaunliche Intimität durch behutsame Wahl der Register zu erzeugen. Der Besuch eines Orgelkonzerts lohnt auf jeden Fall, besonders wenn ein Wayne Marshall spielt. Denn wer in der Schlussimprovisation noch eine vierstimmige Fuge zum Besten gibt, muss einfach ein cooler Typ sein. Wir sehen uns also am 15. Juni, wenn Iveta Apkalna das nächste Orgelkonzert im großen Saal bestreitet und dabei unter anderem den musikalischen Spagat zwischen Bach und Ligeti wagt. Dann hoffentlich mit einem etwas größeren Publikum, denn noch schöner ist es im großen Saal, wenn er nicht nur knapp halb voll ist.