Bohema Magazin Wien

View Original

Papierform übertroffen

Endlich zurück - Russischer Weltschmerz en masse beim überwältigenden Schostakowitschabend des Mariinsky-Orchesters unter Valery Gergiev mit Denis Matsuev im Konzerthaus.

Valery Gergiev mit seinem kaum sichtbaren Minitaktstock /// Lukas Beck (c)

Nach der Papierform gibt es kaum einen besseren Klangkörper für Schostakowitsch als das ehrwürdige Mariinsky-Orchester unter Valery Gergiev. Klar, es gibt auch andere gute Orchester aus Russland; und zu denken, nur russische Orchester könnten russische Musik perfekt interpretieren, ist wohl auch eine Sonderform von Rassismus. Am Ende des Tages vertraut man ihnen bei all den Pjotrs, Dmitris und Sergejs doch automatisch mehr als unseren orchestralen Eigengewächsen. Gestern wurde dieses Vertrauen im Konzerthaus jedenfalls mit einer musikalischen Intensität bestätigt, die mich wortwörtlich bis in meine wirren Träume begleitete.

Früheres Lockdownende wegen des Gastspiels?

Meine Vorfreude auf dieses dreitägige Gastspiel hege ich schon seit dem Frühling, als Konzerthausintendant Matthias Naske während eines Interviews seine Highlights der Saison schilderte. Drei Abende, drei bombastische Solisten und nur Schostakowitsch. Im letzten Lockdown glaubte ich kaum noch, dass die versprochene Öffnung tatsächlich erfolgen würde. Dann hieß es, es geht erst am Montag los. Dass die Öffnung doch am Sonntag kam, könnte durchaus mit diesem Konzert zusammenhängen. Höchste Zeit, dass die Politik in der Pandemie auch mal an die Kultur denkt.

Schostakowitschs schrieb seine erste Sinfonie mit nur 19, das hört man aber keineswegs. Besonders die letzten zwei tragischen Sätze rissen mich mit sich, zunächst hatte ich Schwierigkeiten, in der dritten Reihe aus wenigen Metern das Stück als Ganzes wahrzunehmen. Denis Matsuev im nächsten Programmpunkt (2. Klavierkonzert) aus dieser Nähe zu beobachten, war Fluch und Segen. Zum einen konnte ich so seine Mimik beobachten (wie sich beim plötzlichen Aufblühen der Musik ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht breitmachte). Zum anderen tat mir seine energisch-hämmernde Spielweise immer wieder in den Ohren weh.

Das war ein Riesenkontrast zu Maria João Pires‘ Mozartfeinheit, die ich erst am Freitag in Budapest bestaunte. Im zweiten Satz brachte Matsuev dann aber etwas Hollywood nach Wien: Die überraschend romantischen Harmonien begleitete er mit einem kristallinen Klang. Auch seine Zugabe zeugte von seiner Fähigkeit zu Feinheit. Obwohl Liadovs The music box ein eher unbekanntes Stück ist, wusste man gleich, worum es ging, dank seiner mechanisch-monotonen Zierlichkeit.

Eine Windmaschine, die nicht in der Partitur vermerkt ist

Zum Schluss dann die vierte Sinfonie, die eine Riesenaufstellung inklusive Celesta verlangt. Als dieser Riesenapparat in Schwung kam, wurden wir alle weggefegt, nicht nur in der dritten Reihe. Dass Gergiev wie eine Windmaschine klingt, wenn er vor großen Einsätzen einatmet, hört man aber nur in den ersten Reihen. Der Effekt passte gut zur Musik, es klang, als ob ein eisiger sibirischer Wind durch den Raum pfeifen würde.

Gergiev leitet das Orchester schon seit Sowjetzeiten, kein Wunder, dass sie seinen markentypisch zitternden Bewegungen und seinem lächerlich winzigen Taktstock (wirklich nicht größer als ein Zahnstocher, das muss man mindestens einmal gesehen haben) perfekt folgten. Für heute Abend mag es schon zu spät sein, für morgen wird es aber auch noch Restkarten à 12 Euro geben. Es ist wirklich ein übernatürliches Erlebnis, von dieser Musik durchgerüttelt zu werden, wir sehen uns hoffentlich beim Buffet in der Pause.