Bohema Magazin Wien

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Peer Gynt: Mythos eines Egoisten

Ein Antiheld wird zum Spiegelbild des modernen Menschen: Peer Gynt. Gefangen zwischen dem Streben nach Selbsterfüllung und der Falle des Egoismus, findet er sich im freien Fall wieder. Die zentrale Frage bleibt: „Wer bin ich?“

© Tommy Hetzel /// Burgtheater

Henrik Ibsen (1828–1906), ein norwegischer Dramatiker und Begründer des modernen realistischen Theaters, reflektiert in seinem Drama Peer Gynt, eingebettet in nordische Mythologie, die gesellschaftlichen und individuellen Mängel seiner Zeit. Die Handlung folgt dem Antihelden Peer auf seiner Reise, die von Selbstüberschätzung, der Flucht vor Verantwortung und der Suche nach Identität geprägt ist. Hin- und hergerissen zwischen Selbsttäuschung und Egoismus wird Peer zur Identitätsgur einer zu selbstzentriert gewordenen Welt. Dabei möchte Ibsen verdeutlichen, dass der Protagonist keinesfalls als Ideal betrachtet werden sollte.

Von Existenzkrise bis Größenwahnsinn

Im Zentrum steht die mythische Figur, ein Egoist, ein pessimistisches Spiegelbild des modernen Menschen: Peer Gynt. Als Abenteurer und Träumer versucht er, seinem Leben durch Flucht und Fantasien eine heroische Bedeutung zu verleihen. Losgelöst von jeglicher Verantwortung verlässt Peer Gynt seine norwegische Heimat und schwindelt sich mit Lügereien durchs Leben. Dabei findet er sich skrupellos im Drang nach Macht und Reichtum wieder. Mal größenwahnsinnig, mal verzweifelt, stolpert er zwischen Traum und Realität auf der kleinen Bühne des Akademietheaters quer durch verschiedenste Länder und innere Welten. Er begegnet Fabelwesen, erlebt die Höhen und Tiefen des Seins, stürzt vom Reichtum in den Wahnsinn, vom Kaiser in die nackte Existenz. Mit einem kleinen Ensemble erkundet der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson in seiner Inszenierung das innerste Seelenleben des Protagonisten.

Ein (Theater-)Rausch der Empfindungen

Die schauspielerische Leistung des kleinen Ensembles erfüllt sämtliche Erwartungen. Besonders Mavie Hörbiger begeistert in der Hauptrolle mit ihren ausdrucksstarken Monologen und zieht das Publikum in einen Sog. In ihrer Interpretation der männlichen Figur Peer Gynt entfaltet sie eine beeindruckende Bandbreite, von kindlicher Verspieltheit über neugierige Abenteuerlust bis hin zu tiefer Verzweiflung, Hochmut und Angst. Barbara Petrisch, Lilith Hässle, Johannes Zirner und Nils Strunk perfektionieren die Inszenierung durch ihre Darbietungen in den vielseitigen Nebenrollen. Mit beeindruckender Tiefe verleihen sie den unterschiedlichsten Charakteren Ausdruckskraft.

Das auf das Wesentliche reduzierte Bühnenbild verkörpert die Schlüsselthemen von Freiheit, Leere und Beklemmung. Ein Gerüst aus Planen verschwimmt in meiner Fantasie zu einer psychiatrischen Klinik. Ein simpler Sessel verwandelt sich in eine emporschnellende Gebirgskette. Die Reduzierung visueller Reize eröffnet dabei die Möglichkeit zur gedanklichen Entfaltung. Durch den geschickten Einsatz von Licht und Nebel wird die Bühne zu einem Ort purer Emotionen. Das Akademietheater lädt mit dieser Inszenierung zu einem eindringlichen Blick in das Seelenleben der modernen Gesellschaft ein. Das reduzierte Bühnenbild, die sanften Klänge und die eindringliche Beleuchtung schaffen eine Sphäre, die zwischen Beklemmung und Befreiung tanzt. Es ist ein Abend, der die nackte Existenz und ihre verzweifelte Fragilität schonungslos bloßstellt. Es scheint fast, als hätte man selbst das Leben des egozentrischen Peers durchlebt – vom Strom purer Emotionen mitgerissen, nur um am Ende leer zurückzubleiben.

Der modernde Mensch auf der Theaterbühne

Peer Gynt ist ein ambivalentes Porträt des modernen Menschen, dessen Suche nach Identität und Lebenserfüllung gleichzeitig eine Warnung vor den Gefahren des Egoismus darstellt. Sein Verlangen nach Macht und Anerkennung, ohne Rücksicht auf Verluste, erinnert an die Entwicklung einer zunehmend selbstinvolvierten Gesellschaft, in der das Miteinander immer mehr an Wert verliert. Es wird immer wichtiger, sich selbst zu reflektieren, sich stetig zu optimieren und dem Leben einen Sinn zu verleihen. Sich dabei nicht im eigenen Ego zu verlieren, scheint wie eine schmale Gradwanderung. In einer von endlosen Möglichkeiten geprägten Welt steht der moderne Mensch in einem konstanten Dialog mit sich selbst. Er grübelt über den Sinn seiner Existenz, über Werte und Facetten seines Wesens, doch bleibt die Frage, ob er jemals den wahren Kern seiner Identität erreicht, offen. Was bleibt, könnte bloß der trügerische Spiegel der Reflexion sein. Eine Lebensreise aus zahlreichen Erfahrungen und Prägungen formt zwar das Narrativ des Lebens, doch garantieren sie keine feste Selbstdefinition. Ein ewiges Spiel aus Erkenntnis und Verwerfung: nie gefestigt, nie verstanden, nie vollständig. Peers Rückkehr offenbart: Er ist nirgendwo wirklich angekommen – weder in der Welt noch bei sich selbst. Am Ende des Abends bleibt nur eine Frage: Wer sind wir wirklich, wenn wir uns selbst verlieren?