Protokoll einer Theaterqual: 5 Stunden am Heldenplatz
Von Thomas Bernhards politischem Skandal hin zum Blick aufs Smartphone: Ein POV zu Castorfs Heldenplatz, das zwischen Revolution und Langeweile schwankt. Und eine Abrechnung mit elitären Theaterinszenierungen.
Thomas Bernhards Heldenplatz ist ein Theaterstück, das die Verdrängung der NS-Vergangenheit und die politische Lage in Österreich thematisiert(e). Bernhard, 1931 geboren und 1989 gestorben, war ein bedeutender österreichischer Schriftsteller, bekannt für seine schonungslose Gesellschaftskritik. Das Stück war und ist wieder im Burgtheater zu sehen und ist besonders, da das Theater eine zentrale Rolle in der österreichischen Kulturgeschichte spielt. Die Uraufführung 1988 führte zu einem Skandal, Bernhards scharfe Kritik an Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit und die Anspielungen auf den damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim lösten heftige Proteste und Debatten aus. Regisseur Frank Castorf wollte seine heurige Inszenierung merkwürdig machen. Sagen wir mal, es ist ihm gelungen…
Ich wage mich an eine neue Form der Rezension: Dieser Text soll ein point-of-view werden. Ihr, die Leser*innen, folgt mir also Schritt für Schritt durch den Theaterabend.
Woran ich bei Heldenplatz denke, ist ein ungelesenes Buch von Thomas Bernhard, was zunächst ungelesen auf meinem Nachttisch lag und jetzt ungelesen in meinem Regal steht. Dass das Stück 5 Stunden und 15 Minuten dauern soll und ich meinen Freund*innen Lotti und Filip, mit welchen ich das Theater besuche, nichts davon gesagt habe, weil ich Angst hatte, sonst alleine ins Theater zu müssen. Und an meinen theaterbegeisterten Freund Fredo, welcher mir etliche Male davon vorgeschwärmt hat.
Ehrlich gesagt habe ich schon fast Angst vor den 5 Stunden, die mich erwarten. Teilweise waren mir schon 2-3-stündige Theater- und Opernproduktionen zu lang. Andererseits habe ich viel vom Regisseur gehört, zumindest gab es immer eine Reaktion, wenn ich seinen Namen erwähnte. Und hier kommt der klassische Journalistensatz, wenn es um sowas geht: Das Thema war nie aktueller. 30 % FPÖ-Wählerinnen. Gestern selbst als “Linker” von Mitgliedern der Identitären Bewegung vor der Uni angemacht und fotografiert worden. Ganz kurz noch einmal, um das klarzustellen: 30 % der Österreicher*innen sind gerade bereit, Nazis zu wählen. 3.000.000 Österreicher*innen wollen Faschisten an der Spitze. Wobei Österreich sich doch immer so gerne in der Opferrolle sieht. Und eben das kritisiert Thomas Bernhard in seinem Theaterstück Heldenplatz.
18 Minuten bis zum Start im Burgtheater Foyer
Im Burgtheater fühle ich mich manchmal wie in einem Film. Das Theater wirkt wie eine Kulisse. Die Menschen wirken wie Statist*innen in einem Film über typische Kunstmenschen. Mir kommt das Wort Mäzene in den Sinn. Sie wirken kritisch, angeregt diskutierend, doch ich könnte mir nicht vorstellen, dass sich einer Mal gegen die Regeln benehmen würde, aufbegehren würde gegen den Staat, wenn man es müsste. Vermutlich regen sie sich über den billigen Lärm, der vom Kinderlauf des Vienna City Marathons herüberweht auf. Vermutlich auch nicht. Meine Freunde sind noch nicht da.
1 Sekunde
Mache jetzt die Stoppuhr an. Das Bühnenbild hat etwas mit den USA zu tun. Warum?
00:55
Bisher ist es spannend. Aber irgendwie stört mich das Amerikanische. Verstehe ich es nicht? Was soll das?
01:07
Die Schauspieler*innen gefallen mir gut, aber langsam werde ich müde. Es wird sehr oft alles wiederholt. Wiederholt. Es wird sehr oft alles wiederholt. UND GESCHRIEN WIRD. GESCHRIEN. ES WIRD OFT GESCHRIEN.
01:13
Ich gucke mir die Leute an. Bin auf den billigen Plätzen. Ich frage mich, ob sie wissen, wie lange das Stück ist. Eine war an ihrem Handy. Ein paar schlafen. Die Leute im Parkett sehen interessierter aus.
01:15
Es sind immer wieder andere Texte mit eingebaut worden. Es geht mal um Brooklyn, mal gibt es einen unverständlichen Monolog. Warum? Ich verstehe es nicht. Sollte man es nicht direkt verstehen oder sollte Theater nicht direkt etwas in mir auslösen? Das ist doch kein Rätsel! Die Karten sind doch so billig, damit alle ins Theater können.
01:19
Immer mehr Leute sind am Handy. 5 in den letzten 3 Minuten. 6 mit mir zusammen. Aber ich bin ja Journalist ;) Sollte das Stück nicht wachrütteln? Gerade schläfert es eher ein. Soll es nicht warnen?
01:25
Der Monolog geht jetzt schon bestimmt 20 Minuten. Beeindruckend aber langweilig. Ich schaue mir das Bühnenbild an. Mir gefällt das Motiv mit den Schaufensterpuppen. Sie sind mit Hitlergruß hingestellt und umgeschlagen worden. Ich denke, die Inszenierung könnte sich mal trauen, einfach zusagen: "Wenn ihr FPÖ Wahlplakate seht, reißt sie ab". Ich finde auch den nachgebauten U-Bahn-Eingang beeindruckend. Er sieht wirklich echt aus. Man müsste mehr über Bühnenbildner*innen erfahren. Sie leisten beeindruckende Arbeit. Oft beeindruckender als die der Regisseur*innen.
01:29
Ich finde es interessant, dass man die Bühnenarbeiter*innen, welche die Bühnen umbauen einfach sieht. Sie stehen neben den Schauspieler*innen auf der Bühne. Sind Schauspieler*innen eigentlich auch Bühnenarbeiter*innen?
01:31
Manchmal frage ich mich, warum das Stück so langweilig gestaltet wird. Es sollte doch für alle interessant sein. Vielleicht geht es auch darum, die Burgtheaterleute zu nerven. Und man schaut, wie weit man gehen kann, bis sie es merken, dass Hochkultur auch einfach nur normale Unterhaltung ist. Jetzt ist auch der alte Mann neben mir am Handy.
01:37
Die Mädchen vor mir sind auf TikTok. Ist es als Kulturjournalist unseriös, wenn man früher geht? Aber ich will eigentlich wissen, was noch passiert. Und will sagen, dass ich mal ein Stück gesehen habe, das 5 Stunden lang war.
01:45
Auf der Bühne werden Kartoffeln geschält. Die Freundin, mit der ich hier bin, hat Hunger auf Kartoffeln. Die Tochter oder der Sohn in der Geschichte, die Rollen werden permanent getauscht, ohne dass man es versteht, hat gerade unter dem Tisch gekackt. Anscheinend hat sie Durchfall. Oder er. Ein älterer Mann und eine ältere Frau sind schon gegangen. Ich weiß nicht, ob es gewollt oder ungewollt lustig ist.
01:55
Man weiß gar nicht mehr, worum es geht. Ich bin gespannt, wie viele Leute nach der Pause noch da sind.
02:00
Habe den anderen gesagt, wie lange das Stück dauert, nachdem sie gefragt haben. Wir haben zu dritt gelacht. Es ist komisch.
Wir lachen immer mehr, es wirkt langsam wie die Karikatur eines Theaterstücks. Langsam wird es unterhaltsamer. Es wirkt allmählich so, als würde es wirklich darum gehen, sich über das Burgtheater-Stammpublikum lustig zu machen. Das finde ich gut.
02:06
Es geht darum, dass der Bruder des Professors Beethoven nie hören konnte, ohne an die Nazis denken zu können. Sie sagen, dass die, die Beethoven einfach hören können, ohne an die Nazis zu denken, die waren, welche die Menschen weggebracht haben. Ich denke an die Menschen im Parkett.
02:15
Die Menschen im Parkett lachen an den falschen Stellen. Sie stimmen den Duckmäusern zu. Es wird bei einer Stelle applaudiert, an der darüber gescherzt wird, was der Regisseur den Schauspieler*innen antut. Es wird nicht applaudiert, als gesagt wird, dass die Juden sich immer noch in Wien fürchten. Es wird nicht applaudiert, als gesagt wird, dass alle sich immer aufregen, aber niemand was tut.
Ich liebe am Burgtheater, dass es sich permanent über das Parkett lustig macht. Ich hasse am Burgtheater, dass das Parkett es nicht merkt und sich ans Parkett angebiedert wird.
Pause
Lotti regt sich über die Videoinstallation auf. Sie machen es jetzt überall in Wien auch am Volkstheater. Sie versteht nicht, warum. Ich sage, vielleicht soll es beim Film so sein, dass die Schauspieler*innen anders spielen, weil sie den Druck des Publikums nicht direkt fühlen. Sie sagt, wir seien ja aber im Theater. Wahrscheinlich hat sich recht.
02:39
Meine Freunde sind gegangen. Ich will sehen, wie viele Leute noch da sind.
02:46
Es geht weiter. Es sind noch erstaunlich viele Leute da. Man muss noch einmal erwähnen: Egal, was ich bisher geschrieben habe, die Schauspieler*innen sind genial. Ich habe großen Respekt. Vor dem Ausdruck. Dem Textgedächtnis. Und der Ausdauer. Alleine, wenn ich daran denke, wie lang das Stück ist, habe ich Respekt vor der Länge der Proben.
02:57
Mir fehlen die ikonischen „Heil Hitler“ rufe vom Heldenplatz, die die Frau Professorin hört. Sie machen deutlich, dass das Stück ein antifaschistisches Stück ist. Und sie machen klar, dass der Faschismus wieder zu einer Gefahr wird.
03:00
Die Mädchen vor mir sind nicht mehr TikTok. Sie sind auf Whatsapp.
03:03
Man vergisst, dass das Stück Heldenplatz von Thomas Bernhard ist. Man vergisst die Botschaft. Die eingestreuten anderen Texte sind unverständlich. Sie lenken ab. Wer Thomas Bernhard nicht sonderlich kennt, wie ich, erkennt nicht immer, was relevant ist, was nicht. Was von ihm ist, was nicht. Und sollte Theater nicht für alle sein und nicht nur für Thomas Bernhard-Spezialisten.
03:10
Der alte Mann neben mir ist auch wieder am Handy.
03:19
Warum geht es die ganze Zeit um Brooklyn? Nach über 3 Stunden macht das Amerika-Thema immer noch keinen Sinn. Auf den Schildern an der Subway-Bühnenkulisse wird zu einer Großdemonstration für Amerikanismus von der Deutsch-Amerikanischen-Vereinigung aufgerufen. Ich sehe es jedoch nur mit meinem Opernglas. Geht es um den Faschismus in Amerika? Und wenn ja, warum? Haben wir nicht genug Faschismus in Österreich, bei 30 % FPÖ und einem selbstproklamierten Volkskanzler?
03:37
Habe nichts mehr zu sagen. Bin müde. Der Garderobenherr meinte es dauert 4:30. also noch über eine Stunde. Es geht grade, glaube ich, um Kennedy. Wer weiß warum?
03:53
Lol. Jetzt lief auf einmal Opernring von BIBIZA. Ich komme nicht mehr mit. Nicht, dass es je so gewesen wäre. Frage mich langsam, ob der Regisseur das ganze für Österreich oder für sich inszeniert hat.
04:12
Wieso sind zwei der Hauptcharaktere jetzt splitterfasernackt? Ein Kostüm? Es wird nicht aufgegriffen, ist kein Symbol. Es ist wie mit vielen Motiven bisher.
04:19
Der alte Mann, der neben mir die ganze Zeit am Handy war, schläft jetzt. Das Stück weckt anscheinend nicht auf.
04:22
Das Stück ist vorbei. Es endet mit BIBIZA’s Song Opernring. Es gibt keine Standing Ovation, aber viel Applaus und Jubelrufe. Die Schauspieler*innen kommen einige Male wieder auf die Bühne.
Fazit
Mehr Inszenierung des Regisseurs als des Stücks. Wie Castorf in einem Interview sagt, freue er sich über Buh-Rufe, dann fühle er sich wie ein Rockstar. Doch anstatt Buh rufen gab es höchstens Schnarcher. (Fazit der Standart Kommentar-Sektion (16.09.24) Ich kenne keinen Rockstar, bei dem man einpennt. Schön unpolitisch bleiben und nichts sagen. Heldenplatz verkommt zu einschläfernder Unterhaltungen. Tolle Schauspieler.