Bohema Magazin Wien

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Punk-Rezitative einer Alltagspoetin

Das Debüt der britischen Band Dry Cleaning ist eines der besten Alben 2021 – und steht daher im Mittelpunkt eines Jahresrückblicks.

Dry Cleaning /// Rosie Alice Foster (c)

Wie jedes Jahr lässt sich auch heuer unter Musikkritiker*innen eine gewisse Einigkeit feststellen, was denn die „besten“ Alben des dahinscheidenden Jahres seien. Eines davon ist New Long Leg, der erste Longplayer der vierköpfigen Band aus Südlondon, Dry Cleaning. Der abstruse Titel ist nur der Anfang. In 10 Songs besingt – oder viel mehr bespricht – Frontfrau Florence Shaw alltägliche Absurditäten in einer Art satirischem Poetry Slam. Ein innerer Monolog, der nach außen tritt.

Rezitativ-Highlights des Jahres

Sprechgesang hat sich mittlerweile in der populären Musik definitiv auch abseits des Hip-Hops etabliert und zeichnete als ein „Instrument der Selbsthilfe“ einige der besten Veröffentlichungen im Jahr 2021 aus – von Cassandra Jenkins‘ Hard Drive über Self Esteems I Do This All The Time hin zur Dancefloor-Introspektive von For Those I Love. Doch neben Hip-Hop macht sich auch der Punk für eine Musikwerdung des Gesprochenen verantwortlich.

2021 – zwischen Pop- und Post-Punk 

Punk-Rock erlebt zurzeit nicht nur in verniedlichter Form eine von TikTok getriebene Wiedergeburt durch Jungstars wie Olivia Rodrigo oder Willow. Auch in ihrer natürlichen Weiterentwicklung angesichts des immer größeren Verschwimmens von Genregrenzen wird die Musikrichtung vorangetrieben. Aktuell erleben wir in Großbritannien eine Art Hochblüte des Post-Punks im 21. Jahrhundert, mit aufstrebenden Acts, deren pandemiebedingt längst überfälligen Live-Auftritte von Fans sehnlichst erwartet und deren diesjährige Alben allesamt von der Kritik gefeiert werden. Darunter black midi, Black Country, New Road, IDLES, Squid und nicht zuletzt: Dry Cleaning.

Sprechgesang und Rockmusik in Wechselwirkung

Der Klangteppich, den die drei Bandmitglieder Nicholas Buxton, Tom Dowse & Lewis Maynard für Shaw ausrollen ist astreine Rockmusik. Die soliden Gitarrenriffs und Basslines hätten bei den gängigen Rockvokalisten vermutlich berechenbar gewirkt, als Unterlage für Shaws Performance wirken sie jedoch wie eine Erdung im reißenden Bewusstseinsstrom, die allerdings jeden Moment Feuer zu fangen droht.

Shaw wirkt, als ob sie es gerade noch schaffen würde, die Fassung zu bewahren. Doch das gelingt ihr – bis auf ein fauchendes Ausatmen am Ende des Openers Scratchcard Lanyard – tatsächlich das ganze Album über. Bei den Worten, die sie ausspricht, braucht sie die Stimme auch nicht zu erheben. Es ist eine dringliche Angelegenheit, ihren lose gesponnen Narrativen und Gedankensprüngen zu folgen, die sie in einer Melange aus rigoroser Präzision, entnervter Beiläufigkeit und trockenem Humor vorträgt. Dabei teilt Shaw gerne auch so manche Weisheit:

If you like a girl, be nice / It's not rocket science

-

Would you choose a dentist with a messy back garden like that? / I don’t think so

I’ve been thinking about eating that hot dog for hours

Meistens geht es um ungesundes Essen: ein Twix, billige Schokoladenmousse, ein altes Sandwich. Dann wieder um Flughafen-Gates und Kreuzfahrtschiff-Decks. Zwischendurch werden auch ein Holbein-Gemälde, John Wick und Instagram-Filter referenziert. Sinnhaftigkeit und Zusammenhang bleiben dabei meist den Hörer*innen überlassen, doch Shaw knüpft damit an größere Themen an: Frauenfeindlichkeit (Unsmart Lady), Eskapismus (Her Hippo) oder das Altern (A.L.C).

Aus ihren Collagen lassen sich Zitate destillieren, die auf Postkarten gedruckt, in Toilettengängen zur freien Entnahme bereitgestellt werden, oder die Instagram-Captions überdrüssiger Millenials zieren können:

More espresso, less depresso

-

Do everything and feel nothing

Indem sie alltäglichen Banalitäten Bedeutung zuschreiben, treffen Dry Cleaning den Nerv des Jahres 2021 – ein weiteres Jahr, in dem die größte Herausforderung war, den Alltag zu meistern.

Am 24. Jänner spielen Dry Cleaning im Wiener Chelsea.