Aus der Schule plaudern
Zwischen der Albertina und dem Bezirk Favoriten, zwischen dem lateinischen Wort docere und der Geburt des Dokumentarfilms: über Favoriten von Ruth Beckermann und Récréations von Claire Simon.
Favoriten © Ruth Beckermann Filmproduktion
Es gibt geschlossene Räume, die wir schnell wieder vergessen, als wären wir dort nur auf der Durchreise gewesen. Und doch können diese Aufenthalte unauslöschliche Spuren hinterlassen, Eindrücke, die uns für immer prägen. Einer dieser geschlossenen Räume ist im Film Favoriten ein Klassenzimmer, ein einfaches Klassenzimmer in einer Schule in einem Wiener Stadtteil. Klassenzimmer sind nicht nur geeignete Kulissen für Szenen aus dem Alltag, sondern auch Schauplätze der Ausbildung angehender Erwachsener. Und diese geben Aufschluss über gesellschaftliche Strukturen, die die Kinder offenbaren.
Die Handlung des Films Favoriten ist einfach: Die Regisseurin Ruth Beckerman begleitet und filmt vier Jahre lang dieselbe Klasse mit derselben Lehrerin. Sie filmt, wie die Lehrerin den Schüler*innen Schuljahr für Schuljahr mit Geduld und Hingabe Mathematik oder Schreiben beibringt, aber auch, wie die Kinder gegenseitige Konflikte untereinander lösen können. Die Lehrerin zögert auch nicht über kontroverse Themen mit den Kindern zu sprechen, wie Krieg oder Religion. Der Film, mit vielen langen Nahaufnahmen gedreht, lässt viel Raum für die Mimik und Gestik der Kinder. Beckermann gibt nicht nur ihnen, sondern auch uns Zuschauer*innen viel Zeit zum Nachdenken, auch um uns mit unserer eigenen verdrängten Vergangenheit der Schulerfahrung auseinanderzusetzen.
Die Arbeit der Kamera lädt ein, uns in die Lage der Lehrerin zu versetzen, die die Kinder nicht verurteilt und ihnen auch keine Vorwürfe macht: Sie verbessert sie, korrigiert sie und stellt Fragen, wenn es nötig ist. Ohne Voice-over, ohne ergänzende Analyse lässt der Film die Kinder sprechen, auch dann, wenn sie noch nicht so gut Deutsch sprechen – wir lernen, dass der Wiener Bezirk Favoriten ein multikultureller Bezirk ist, der stark von sozialen Ungleichheiten geprägt ist. Wenn diese Herkunft eine Rolle spielt, wird das hier nicht problematisiert, zumindest werden die Fragen nicht darauf bezogen. Vielmehr werden hier thematisiert, dass das österreichische Bildungssystem ins Wanken gerät und, dass Kosteneinsparungen die hingenommen werden müssen, einen direkten Einfluss auf die Kinder hat. Der Rektor der Schule verkündet auf dem Schulhof, dass Sozialarbeiter, Psychologen und einige Lehrer nicht ersetzt werden. Wenn Kinder nach vier Jahren so viele Fortschritte gemacht und so viel gelernt haben, versteht man ganz genau die zentrale Rolle der Lehrerin im Leben eines Kindes und die Bedeutung eines starken Bildungssystems, das auf die Kinder eingeht, das Zeit braucht und schrittweise aufgebaut wird, mit Pädagogik und Vertrauen.
Favoriten © Ruth Beckermann Filmproduktion
Das Klassenzimmer ist für Filmemacher ein wiederkehrendes Thema, fast schon ein „Schulfall“ (ein „cas d’école“ – ohne schlechtes Wortspiel), der von den „Meistern“ der Filmindustrie geschätzt wird, da er in den letzten Jahren von den Festivals gelobt wurde. Beispiele hierfür sind der Oscar-nominierte Film Das Lehrerzimmer, Explanation for everything - Eröffnungsfilm der Viennale 2023, Tiger Strips - Grand Prix bei den Filmfestspielen von Cannes oder vor einigen Jahren Die Welle, die mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Doch obwohl diese Filme sehr starke und richtige Fragen stellten, war ihnen Gemeinsamkeit, dass die „huis clos“ (hinter verschlossenen Türen) des Klassenzimmers nur zu Eskalation und Katastrophe führen zu können schien (vom Ausschluss eines Schülers oder Lehrers bis hin zum Selbstmord eines Schülers). Als ob Filme über Bildung nur Thriller sein könnten, in denen die Menschheit in den Untergang rennt, da selbst Bildung nichts am Zustand des Menschen ändern kann und Lernen nur durch Gewalt und Exzesse möglich ist. Wenn man aber als Zuschauer*in das Kino nach Favoriten verlässt, geht man voller Hoffnung, Resilienz und berührt von diesen Kindern aus dem Kino. Es scheint so aus, dass eine minimalistische, aber nicht didaktische Inszenierung manchmal ausreicht, um soziale Realitäten und Systeme im Allgemeinen aufzudecken. Die Lehrerin Ilkay Idiskut, ganz im Gegensatz zu den anderen Vorschläge erinnert uns, dass Ausbildungen mit Geduld und Pädagogik möglich sind und, dass ein Zusammenleben möglich ist (so naiv wie das auch klingen kann).
Récréations © Claire Simon
Dreißig Jahre zuvor hat die Regisseurin Claire Simon den Film Récréations (1992) („Schulhof“) gedreht. Auch Simons Film spielt in einer Schule, jedoch draußen - auf einem Schulhof, auf dem die Kinder während der Pause spielten – diesmal ohne Lehrer*Innen. Sie hatte es sich zur Regel gemacht, nicht einzugreifen, selbst wenn die Kinder miteinander rauften, sondern einfach nur zu filmen, was dort geschah. Und was dort geschah, war nicht sehr schön: Die Kinder schrien sich gegenseitig an, zogen sich an den Haaren und schlugen sich. Kurz gesagt, sie scheinen ihren ursprünglichen Trieben unterworfen zu sein.
Angesichts dieser Brutalität wäre es verlockend, sie zu analysieren oder in ihr die großen Züge einer menschlichen Kondition zu lesen. Aber Claire Simon zeigt auch, dass Kinder Geschichten, Strukturen und Organisationen erschaffen. Dass Kinder in Wirklichkeit auch das sind, was sie tun wollen, und dass das sich ständig verändert, natürlich abhängig von psychologischen und soziologischen Merkmalen, aber auch von ihren verschiedenen Interaktionen und den Grenzen, die sie ständig austesten und ausreizen. Claire Simon sagte : „Für mich waren Kinder Drehbuchautoren, die ständig Ideen hatten, die versuchten, Szenarien zu finden, die funktionierten, Ideen, die es ermöglichten, dass Verbindungen zwischen ihnen geknüpft wurden und dass sie spielten“. In ihrer Film gibt es etwas, das eher in den Bereich einer allgemeinen Beobachtung fällt. Es ist übrigens kein Zufall, dass die autodidaktische Regisseurin Ethnologie studiert hat, eine Wissenschaft, die das menschliche Verhalten in Gesellschaften auf der Welt analysiert und vergleicht. Auch Jean Rouche, einer der wichtigsten Theoretiker des Dokumentarfilms, war Ethnologe. Dennoch beschlossen Claire Simon, Jean Rouche (und Ruth Beckerman), Dokumentarfilme zu drehen und keine Studie zu machen. Das Wort „Dokumentar-“ in Dokumentarfilm kommt vom lateinischen „docere“, was so viel bedeutet wie „zeigen, sehen lassen, unterrichten“. Im Dokumentarfilm liegt seiner Fähigkeit, das Unsichtbare sichtbar zu machen, indem er dazu verleitet, die eigene Wahrnehmung der Gesellschaft und der Welt neu zu bewerten.
Mit den Filmen Favoriten und Récréations werden zwei verschiedene Thematiken untersucht - die Organisation und das Großwachsen der Kinder mit Erwachsene und ohne Erwachsenen. Jedoch in beiden Fällen wird die Schule nicht nur verfilmt, damit die moralische Botschaft einer Regisseur*innen im Zentrum steht, sondern in beiden Fällen, versuchen die Regisseurinnen, die Protagonist (Kinder und Lehrerin) den Raum lassen, damit Sie selber entscheiden wollen, was sie zu sagen haben oder wie sie sich organisieren wollen. In der Albertina Modern steht in der Mitte des Ausstellungsraums ein kleines Haus, von Erwin Wurm gebaut, wo man sich als Zuschauer sich beugen muss, um hinein zu gehen. Dieses Haus soll eine Nachbildung einer Miniaturschule darstellen und uns darauf aufmerksam machen, dass die Orte, die man verlässt, kleiner, weniger wichtig und weniger furchteinflößend erscheinen, wenn man erwachsen wird. Die Schule von Erwin Wurmt zielt auch die Bildung von zuvor zu hinterfragen. Genau wie das kleine Erwin-Wurm-Haus, bieten beide Dokumentarfilme einen großen Spielraum für Kreativität in der Art und Weise, wie die Geschichten erzählt. Wir sind gezwungen, uns zu beugen im Haus zu gehen oder lange Szenen im Dokumentar zu sehen, von Kindern, die Schwierigkeiten mit dem Rechnen haben. Schule werden vielleicht zu Labor für Film (und menschliche Beziehungen) aber beide Regisseurinnen bieten uns poetische Erzählrekonstruktionen und kraftvollen künstlerischen Ausdrucksmitteln um Perspektive über Kinder und Bildung zu zeigen.