Seelenreinigung mit Mahler
Wenn in der der Weltuntergangsstimmung eine Runde Schnaps am WG-Tisch nicht mehr reicht, ist Mahler zur Stelle: Gemeinsam 300 Menschen beim Musizieren zuzuhören löst zwar unsere brennenden Probleme nicht, kann aber helfen.
Zehn Minuten dauert es, bis alle Beteiligten die Bühne betreten haben (das Konzerthaus-Publikum klatscht diese Ewigkeit treu ergeben durch). Bei der Uraufführung der Symphonie 1910 sollen es ganze 1030 Musiker*innen gewesen sein, eine Symphonie der Tausend wurde sie von den Kritikern genannt. Mahler lehnte diesen Beinamen ab – und heute waren schließlich nur circa 300 Personen auf der Bühne zu sehen. Trotzdem ist die Bühne brechend voll, und die Publikumsreihen sind es auch. Mahlers Symphonie beginnt ohrenbetäubend. „Wird das jetzt den ganzen Abend so?“, fragt mein Sitznachbar seine Gattin ungeniert. Dirigent Philippe Jordan fällt es zunächst schwer, diesen riesigen Apparat zu kontrollieren, den Deckel auf dem brodelnden Topf musikalischer Energie zu halten. Gemeinsames Musizieren, wie man es aus kleinen Ensembles kennt, ist hier nur schwer möglich, gerade die Solist*innen scheinen Probleme zu haben. So bleibt der erste der beiden Sätze vor allem eines: laut.
Doch dann kommt der zweite Satz dieser so ungewöhnlichen Symphonie. Die Spannung ist greifbar, die Musik wird plötzlich so anders, so warm. Soli schälen sich aus der ungeheuren Menge heraus und werden vom Ganzen getragen, mal schwingt der Chor gemeinsam mit einem Streichquartett, mal malen die Holzbläser eine düsterstille Berglandschaft. Ist es nun vertretbar, die sich aus der Stille heraus aufbäumenden Chöre zu bewundern? Die Luft anzuhalten, wenn Shootingstar Regula Mühlemann mit goldener Krone von der Decke die Mater gloriosa singt? Bei den letzten Beckenschlägen die Fassung zu verlieren und ein paar Tränen zu verdrücken?
Ruhepol im Hiobsbotschaftssturm
In den letzten Tagen haben uns so viele Hiobsbotschaften erreicht. Ein populistischer, ängsteschürender Bösewicht ist wieder Präsident der USA geworden. Alle zwei Wochen ertrinkt ein anderer Teil Europas im Hochwasser. Was uns bleibt, ist eine allgemeine Weltuntergangsstimmung. Da hilft auch die Runde Schnaps am WG-Tisch nichts mehr, Zynismus macht sich breit. Ich denke, wenn ich nicht bis zum Hals gefüllt mit Bedenken und Anspannung heute ins Konzerthaus gegangen wäre, dann hätte ich weniger stark auf diese Symphonie reagiert. Doch mir hat dieses Zusammenkommen, das gemeinsame Erleben und diese von Kraft überbordende Darstellung heute geholfen, mit meinem Weltschmerz umzugehen.
Ich werde nicht rausfinden, ob es den anderen auch so ging. Der Saal stand zumindest beim Schlussapplaus, Philippe Jordan legt zufrieden die Zügel seines vielköpfigen Gespanns aus der Hand. Ihm scheint es eine sichtliche Freude, hier heute dabei gewesen zu sein. Einen Abend den Weltuntergang Weltuntergang, Trump Trump und Klimakatastrophe Klimakatastrophe sein lassen. Ab morgen gehen wir es wieder an, aber heute Abend erlöst uns Mahler.