Tanzgeschichte fernab des Kanons
Über postkoloniale Stille und eine tänzerische Auferstehung. Exótica im Tanzquartier erzählt vom Verschwinden gemeinschaftlicher Erinnerung an diskriminierte Bühnenkünstler*innen in Europa
Schon der Titel des Stücks Exótica verbalisiert die bis heute beständige Handhabe „fremd“- gelesenen Kunstpraktiken Andersartigkeit zuzuschreiben und diese dabei zu sexualisieren. Eine Reise in die Vergangenheit im Tanzquartier ruft zur geschichtlichen Aufarbeitung von Europas Kunstgeschichte und der Eintragung fehlender, namentlicher Erwähnungen im Diskurs auf.
Eine kollektive Beschwörung
Mit Exótica wurde mehr als nur eine Hommage an alle im Kanon der europäischen Tanzgeschichte unauffindbaren Performenden of Color performt. Das Stück zitiert zwischen grünen Bühnenzierden und Pappwäldern aus Tänzen gelöschter Persönlichkeiten, die trotz ihrer Bekanntheit zu Lebzeiten keinen Platz in der Erinnerungskultur der Kunst gefunden haben. Am letzten April-Wochenende durfte ich mir die Ehrungszeremonie der vergessenen Tanzschaffenden in Form eines choreografischen Werks unter der Leitung von Amanda Piña ansehen. Die zwischen Mexico-City und Wien basierte chilenisch-mexikanische Künstlerin mit spanischen und libanesischen (syrisch-palästinensischen) Wurzeln bearbeitete dabei Themen, die ihr und den Tänzer*innen nahestehen: Herkunft, Diskriminierung und Unsichtbarkeit. Die kollektive Beschwörung der Vergessenen wurde mit Ángela Muñoz Martínez, Zora Snake, Venuri Perera, iSaAc Espinoza Hidrobo und Amanda Piña vertanzt.
“When you did what you did, it was the last breath of black fight in white martyrism.”
- Zora Snake über François „Feral“ Benga
Kunst und Erinnerungsarbeit
Für die Kunstszene allgemein ist es wissentlich kein neuer Kritikpunkt, dass Menschen aus marginalisierten Gruppen oft nicht ihren wohl verdienten Platz in Büchern, im Lehrkontext oder in den Gedächtnissen der Zuschauenden erlangen. Es bedarf also permanenter Neuansprache der Problematik, bis endlich choreografische und künstlerische Werke mit den wahren Urhebenden und/oder ihren Erfolgen verewigt werden. Wie im Ensemble von Amanda Piña, in dem durch Bewegung, Text, Infotainment und dem Duft von Palo Santo die Präsenz der teils queeren Bühnenkünstler*innen La Sarabia, Nyota Inyoka, François „Feral“ Benga und Leila Bederkhan symbolisch zum Leben erweckt wurde.
Diese Performer*innen waren in den 1920er Jahren in Europa sehr erfolgreich, tourten, arbeiteten und lebten in Europa – jedoch ohne ihrem damaligen Ruhm entsprechend in Erinnerung zu bleiben. Ähnliches spiegelt sich im geschichtlichen Diskurs über Bühnenkunst in Europa wider, in dem die pluralistische Herkunft von Werken oft vage scheint und wichtige Namen in Verschriftlichungen und Hörsälen unerwähnt bleiben. Kunstschaffende leiden unter der immerwährenden post-kolonialen Stille über vergangene Ikonen, Identitäten, einer Unaufgeklärtheit und fehlender POC-Vorbilder im europäischen Raum trotz vergangener Existenz und Popularität. Zu leise wird Erinnerungsarbeit geleistet, in kleinen Schritten gräbt mensch Legenden talentierter Künstler*innen von damals aus. Nur langsam und durch das Generieren von Aufmerksamkeit wird die abwesende Arbeitswertschätzung von Kunstschaffenden of Color zurückerobert.
“If something hurts it normally needs healing, but healing can hurt too. La Sarabia, you
mothered the queer communities in France with so much pain.”
- Amanda Piña über La Sarabia
Die Choreografin trägt ein Tuch ihrer Großtante väterlicherseits auf die Bühne und tanzt. Diese war niemand anderes als La Sarabia, erklärt Amanda Piña in einem langen, imaginären Dialog mit ihrer verstorbenen und vergessenen Verwandten. Die vier weiteren Performenden tun es ihr gleich, sie tanzen ihr Solo und widmen dieses, sowie ihren anschließenden Monolog einer*m der fünf Bühnenkunstschaffenden aus dem 20. Jahrhundert. Durch gemeinsames Tanzen auf der Bühne zu Afro-Beats zwischen zwei Altaren und Dschungel-Requisiten wird die Kurve elegant zu mystischer Stimmung und einer interaktiven Meditation zur Ahnenbeschwörung gezogen. Eine gelungene, aufklärende, spirituelle und multilinguale Performance in englischer, französischer und spanischer Sprache mit englischen Übertiteln, sodass sich die Inszenierung auch für Gehörlose eignet.
White Gaze und Performance
Dadurch, dass durch Rassismus das „Fremde“ so oft exotisiert und sexualisiert wird, sind wir als Lebende in Zentraleuropa Hauptakteur*innen dieser Denkmuster - denn es kann uns noch so bewusst sein, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen, der Third-person-effect trifft auch auf Belesene und “Sich-Weiterentwickelnde“ zu. Wir haben diese Wahrnehmungsschemata internalisiert, Palmen mit Urlaub assoziiert, sowie andere, nicht so harmlose Bilder, wie beispielsweise Afrika als Land und nicht als den riesigen Kontinent verschiedenster Kulturen, der er ist. Es wird durch den westlich-geprägten Blick wie eine rosarote Brille hindurch romantisiert, was in das kolonialistische Weltbild passt. Deshalb sind Werke, die diesen White-Gaze entlarven besonders wichtig, um Performance,- und gesellschaftliche Kategorien wie „afrikanisch“ und „orientalisch“ von einschränkenden, vorherrschenden Vorstellungen abzulösen. Ein nicht-exotisierter, künstlerischer Gestaltungsraum ohne Limitationen für queere und POC-Kunstschaffende ist hoffentlich nahe Zukunftsmusik.
“We dance in resistance. As accredited chameleons on a priviledged stage.”
⁓ iSaAc Espinoza Hidrobo über La Sarabia