Bohema Magazin Wien

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Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? — Zwischen zwei Welten 

Alexander Koberidzes zweiter Langfilm (ab dem 14. April im Kino) ist ein georgisches Halbmärchen, das in seiner Uneindeutigkeit einen erfrischenden, ja notwendigen Impuls liefert. 

Ani Karseladze als Lisa in Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? /// DFFB

Es gibt da noch einen Film, den ich letztes Jahr auf der Viennale gesehen habe, der mir immer noch nicht ganz aus dem Kopf geht: Alexander Koberidzes Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?, ein Film, der sich wunderschön konsequent unzähligen Zwischenräumen auf formaler wie inhaltlicher Ebene verschrieben und damit vielleicht sogar einen notwendigen gesellschaftlichen Impuls auf die Kunstform Film übertragen hat. 

Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? handelt von der Medizinstudentin Lisa (Ani Karseladze) und dem Fußballspieler Giorgi (Giorgi Bochorishvili). Die beiden verlieben sich in einem kurzen magischen Zusammentreffen in Kutaissi, der drittgrößten Stadt Georgiens und verabreden sich zu einem Date, aber werden entgegen ihrer romantischen Bestrebungen kurzerhand verflucht. Über Nacht verändert sich ihre körperliche Erscheinung, sie verlieren ihre Talente und stehen nun vor der schwierigen Aufgabe sich in ihren neuen Körpern wiederzufinden, während sie gleichzeitig ihrem neuen Alltag in den idyllischen, ruhigen Stadtlandschaften nachgehen. Das Schöne daran: So uneindeutig wie die Körper der Verliebten ist der Film auch beinahe vollständig in Form und Inhalt. 

Fiktion vs. Realität 

Zunächst einmal lässt sich das verträumte Werk nicht in das binäre Konzept von fiktionalem und nicht-fiktionalem Film einordnen. Ich besuchte die Vorführung zwar mit dem Verständnis, es handele sich um ein einfaches Liebesdrama mit fantastischen Elementen, doch nach etwa einer Stunde verweigerte sich der Film komplett meines Genre-Schubladen-Verständnisses der Kunstform. 

Nach einer langen, nostalgischen, sehr ausgeschmückten Fußballsequenz flog das zugehörige Sportgerät kurzerhand in einen nahegelegenen Fluss und begann sich von diesem forttreiben zu lassen. Dieses Treibenlassen übernahm hier Koberidze selbst und adressierte mich in einem die ruhigen Naturaufnahmen begleitenden essayistischen Voiceover mit einem assoziativen, direkten Monolog, in dem er die Grenzen der Fiktion einriss und mir plötzlich die zerstörerischen Kräfte des Klimawandels vor Augen führte, vor denen ich mich eigentlich in einem eskapistisch anmutenden Romantikfilm gedanklich geschützt fühlte. War das jetzt noch Teil des Films? Oder war das schon mehr? 

La Montagna Sacra /// ABKCO Films (c)

Der Film ist hier Kunstwerk und Kommunikationsmittel zwischen Regisseur und uns Rezipierenden gleichzeitig und fordert unser festgefahrenes Verständnis der Fiktionalität des Films grundsätzlich heraus. Diese offene Form und direkte Kommunikation erinnerte mich an Alejandro Jodorowskys La montagna sacra. Einen psychedelisch-surrealen Film über eine Reihe von Menschen, die von einer an Jesus angelehnten Person mit dem Versprechen, ewiges Leben zu erhalten, auf einen Berg geführt werden. Dort angekommen richtet der Regisseur sich zu uns, lässt die Kamera zurückfahren und enthüllt das Filmset. Auch hier kommt es zu einem Aufbruch der Fiktion, wie sie Koberidze – wenn auch in einem ruhigeren, unaufgeregteren Kontext – vornimmt. Sicherlich verstärkt die Tatsache, dass der für das hier behandelte georgische Werk verantwortliche Filmemacher in seinem Monolog auch die Kunstform Film selbst reflektiert, diese Wahrnehmung von Ähnlichkeit. 

Beide Regisseure verstehen es auf jeden Fall, das Publikum an die Grenzen seiner Sehgewohnheit zu führen, das eigene Verhältnis zum Film reflektieren zu lassen und gleichzeitig den Film - zumindest in meiner Wahrnehmung – zu etwas realerem, einer Mischung aus künstlerischem Objekt und direkter Interaktion werden zu lassen. Die erste Polarisierung, der sich Koberidze verweigert, ist also die vermeintliche Binarität zwischen fiktivem Film und direkter „realer“ Kommunikation beziehungsweise nicht-fiktionalem Film. 

Märchen vs. Realismus 

Bewegen wir uns von der elementaren Ebene des Genres (oder der Fiktionsform?) eine Stufe nach unten innerhalb der Hierarchie der Filmcharakterisierung, kommen wir zur inhaltlichen Ebene des Films - beziehungsweise zum innerfilmischen Realitätsverständnis. 

Ich hatte bereits erwähnt, dass ich schon zu Beginn des Films wusste, dass es sich um eine romantische Geschichte mit fantastischen Elementen handelt. Was mir aber nicht bewusst war ist wie der Film hier die zwei doch ziemlich starken Gegensätze von einem typisch europäisch-autorenkinohaften Realismus und der (vermeintlichen) Realitätsferne des Märchens ineinander vereint. 

Einerseits ist der Film distanziert. In Supertotalen sehen wir den – zugegebenermaßen traumhaft anmutenden – Schauplatz der Erzählung, die drittgrößte Stadt Georgiens Kutaissi. Hier fristen die beiden Hauptfiguren nun ihr tägliches Dasein, indem sie in einem Café arbeiten oder mit fragwürdigen Taschenspielertricks Passant*innen um ihr Geld bringen. So weit, so realistisch. Doch wie bewegte sich der Film in diese meditativ-ruhige Richtung? Nun ja, die beiden verlieben sich, werden verflucht, durchgehen eine unaufgeregte Metamorphose und erkennen sich nicht wieder. Dieses märchenhafte Grundkonstrukt wird in absurdester, karikierter Weise durch eine Reihe anthropomorphisierter Gegenstände losgetreten, die die weibliche Hauptfigur vor dem anstehenden Fluch warnen: Ein Sämling, eine Überwachungskamera, ein Abflussrohr und der Wind – dagegen wirken die vermenschlichten, fußballbegeisterten Hunde, die uns der Film immer wieder an verschiedenen städtischen Örtlichkeiten beiläufig vor Augen führt, fast schon alltäglich. Natürlich dient auch hier der Verlust der Talente der beiden Verliebten, – namentlich das medizinische Fachwissen und das fußballerische Talent – der distanzierten, mit Realismus assoziierten Ruhe. Schließlich bleibt ihnen nichts anderes übrig, als nun einem etwas leereren Tagesablauf entgegenzutreten. 

Es gibt hier also nicht eine Form – Märchen oder Realismus. Das Märchen tritt nämlich erst durch den Fluch in das realistische Leben der beiden ein, verwandelt ihre Realität in eine fantastische, doch drängt sie zu einem Leben, das durch seine unaufgeregt ruhige

Undine /// Schramm Films, ZDF (c)

Darstellung realistisch auf uns wirkt. Dieser typisch europäische magische Realismus hat mich an Christian Petzolds Undine denken lassen, ein Film, der zunächst die Liebesgeschichte einer akademischen Museumsangestellten und eines Industrietauchers mit den typischen ultrarealistischen Mitteln der Berliner Schuler erzählt - bis sich irgendwann herausstellt, dass die Protagonistin ein Wassergeist ist. Ganz einzigartig ist dieses hybride Dasein des georgischen Films also dann doch nicht. Außergewöhnlich aber schon! SPOILER: Am Ende löst sich in Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? schließlich der Fluch und es scheint so, als würde sich das Leben der Verliebten gänzlich wieder dem Realismus anschmiegen, doch dann fällt der Satz: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann Leben sie noch heute“. Eine Existenz der einen Form ohne die andere – ein Märchen ohne Realismus und umgekehrt - ist also in der Realität dieses Filmes nicht möglich. Die zweite Polarisierung, der sich Koberidze verweigert, ist also die vermeintliche Binarität zwischen Märchen und Realismus.  

Distanziertes Arthouse-Klischee vs. verspieltes Montagekino 

Mit diesem Sonderstatus zwischen Märchen und Realismus kommt – wie in der Erwähnung der Supertotalen schon subtil angekündigt - auch ein dritter Punkt einher. Es geht um die kleinste Stufe, auf der wie dieses erfrischende Zwischendasein des Films beobachten können – und zwar um die filmischen Mittel, die Bausteine, aus denen all das oben diskutierte besteht. 

Auf der einen Seite haben wir Supertotalen, starre Einstellungen und eine geringe Schnittfrequenz, während wir andererseits immer wieder mit niedlich verspielten Montagesequenzen konfrontiert werden. Diese haben mich vor allem in zwei Szenen durch ihre Kreativität und Leichtigkeit überrascht. Erstere ist eine Sequenz relativ zu Beginn des Filmes, in der wir sehen, wie sich die beiden späteren Verliebten immer wieder auf der Straße begegnen. Hier sehen wir jedoch nicht wie wir vielleicht erwarten würden die Körper oder die Gesichter der Figuren, sondern lediglich in einer Nahaufnahme die Füße der beiden, die sich schüchtern auf dem Asphalt begegnen. Noch einfallsreicher wird der Film hier, wenn wir eine Montagefrequenz sehen, die der einer Erhängungsszene gleicht. Wir sehen Füße auf einem Podest, die Entfernung des besagten Podests und dann hängende Beine. Es stellt sich jedoch heraus, dass es sich lediglich um die Observation eines Kraftwettbewerbs handelt, bei dem Fußgänger*innen dazu aufgefordert werden, eine bestimmte Zeit an einem Balken zu hängen, um Geld zu gewinnen. 

Koberidze zeigt hier nicht nur Fußromanzen und hängende Füße, sondern auch erstaunlich nostalgische, warme Fußballsequenzen, die sich in der Leichtigkeit der Inszenierung vom langsamen europäischen Arthouse-Modus abheben. Die dritte Polarisierung, der sich Koberidze verweigert, ist also die vermeintliche Binarität zwischen langsam-distanziertem europäischem Arthouse-Klischee und verspieltem Montagekino.  

Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? Ist also ein Film, der sich jeglicher Binarität verweigert, sei es in der Fiktionsform, dem innerfilmischen Realismusverständnis oder dem Inszenierungsstil. Das ist sehr erfrischend! Gerade in einer Zeit, in der sich das Kino immer weiter polarisiert. In einer Zeit, in der auf der einen Seite die von Marvel dominierten Multiplex-Paläste stehen, während es auf der anderen Seite bei den „kleinen“ Filmen zu einem Kampf um die Projektionsflächen in der sterbenden Kinolandschaft kommt. Und das Kino spiegelt natürlich auch immer die Gesellschaft wider. Ausführungen über die dortigen Polarisierungen erspar ich mir in Blick auf die Flut an Zeichen, die ich euch hier schon zumute, mal lieber. Ich sag nur so viel: Hoffen wir mal darauf, dass sich die Gesellschaft nicht nur auf das Kino auswirkt, sondern auch das Kino auf die Gesellschaft. In diesem Fall wäre Koberidzes Zwischenfilm nämlich pures Gold wert!