Bohema Magazin Wien

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Werther meets World Wide Web

Werther.live - Herzerwärmendes digitales Theaterstück á la Goethe.

Foto: werther.live

In meinem Zimmer ist es kurz vor Beginn so ruhig, wie sonst nie in einem Theatersaal. Ich sitze auf meinem Sofa, der Laptop liegt auf dem Tisch davor. An meinem Schreibtisch brennt das Arbeitslicht, auf meinem Schoß liegen Stift und Papier bereit. Und dann, und das ist jetzt kein Witz: kurz vor 20 Uhr, kurz bevor ich den Link für den Online-Stream nochmal aktualisieren möchte, beginnt die Glühbirne meiner Schreibtischlampe an zu flackern und nach wenigen Augenblicken ist die Lampe aus. Ich sitze in meinem Zimmer in Dunkelheit. Das wird mir doch keiner glauben, denke ich mir, dass kurz vor Beginn das Licht automatisch ausgeht, fast so, als säße ich tatsächlich auf den roten Sesseln im Theatersaal. Ich lache und schüttle kurz den Kopf, bevor ich den Link ein letztes Mal aktualisiere.

Jetzt lausche ich zwei jungen Männern bei einem intimen, freundschaftlichen Gespräch, es handelt sich um Werther (Jonny Hoff) und Wilhelm (Florian Gerteis). Wer bei Werther direkt an Die Leiden des jungen Werthers von Goethe denken muss, liegt richtig und kann sich jetzt kurz selbst auf die Schulter klopfen.

Goethe meets Instagram

Auf meinem Bildschirm läuft das digitale Theaterprojekt werther.live, welches am 05.11.2020 Premiere feierte und jetzt wieder aufgenommen wird. Das Konzept des Theaterkollektivs mit Regisseurin Cosmea Spelleken transportiert den literarischen Klassiker in das Internet. In einen Ort, von dem der gute Goethe wohl noch keine Ahnung hatte. Was Goethe noch nicht wissen konnte: wie gut sich sein Stoff in die Welt der sozialen Medien transformieren lässt. Das Konzept des jungen Kollektivs ist es, Theater und Social Media zu fusionieren und so eine ganz neue Welt zu erschaffen, in welcher eine alte Geschichte neu erzählt wird. In der Theorie ist das bereits Theater.

Wer sich vorhin nicht kurz auf die Schulter klopfen konnte: Die Leiden des jungen Werther ist ein Briefroman über die unglückliche Liebesbeziehung von Werther zu Lotte (gespielt von Klara Wördemann). Am Ende des Romans nimmt sich Werther aufgrund der Aussichtslosigkeit der romantischen Beziehung zu Lotte und dem dazukommenden Liebeskummer das Leben. Auch wenn man das Ende dieser Geschichte schon kennt, wenn es dann wirklich im Stück passiert, schmerzt es. Gewaltig. Bei allen Scherzen, Gefühlsbekundungen und Gesprächen, lacht, trauert, verliebt man sich mit. In Werther. In Lotte. In die Liebe.

Schon einmal an eBay als Datingportal gedacht? Wenn es der Werther schafft…

Werther und Lotte lernen sich auf eBay Kleinanzeigen kennen, weil Werther einen alten Fotoband mit altertümlichen Waffen von ihr ersteht. Diesen nimmt er auseinander und illustriert damit seine Collagen, die er auf seinem Instagramaccount (@wer.werther) hochlädt. Werthers Collagen begleiten einen durch das ganze Stück, um die Geschichte auf einer zweiten, ganz subtilen Ebene weiter zu erzählen. Lotte und Werther blieben daraufhin in Kontakt, schreiben zuerst auf WhatsApp, bevor sie telefonieren und sich schließlich via Zoom und Skype tatsächlich sehen. Von da an, bleiben sie ständig in Verbindung. Bei ihren virtuellen Treffen ist Werther so hin und weg von Lotte, dass er, statt sich das Musikvideo anzuschauen, das sie ihm geschickt hat, mehrmals das Fenster mit ihrem Gesicht vergrößert um ihr mit der Maus über ihre Haare, ihre Wange und ihr Dekolleté zu streichen. Sein Cursor wird seine Hand.

Alles was ich als Zuschauerin sehe, ist Werthers Bildschirm. Ich höre ihn tippen, grübeln, schmunzeln. Ich sehe sein virtuelles Handeln, von Chats, Sprachnachrichten, Musikvideos, Fotos über Gifs und Videocalls. Sehe, was er Lotte und was er Wilhelm schreibt. Ich beobachte, wie er nach Lotte sucht, auf Instagram und Facebook. Sich ihre Bilder anschaut und in Zoomtelefonaten und Sprachnachrichten Willy erzählt, dass er sich nicht erklären kann, woher dieses Gefühl und ihre gemeinsame Verbindung kommt. So ehrlich und aufrichtig Werther erzählt, so lustig und humorvoll versucht Willy seinen besten Freund zu unterstützen.

Endlich Chats stalken: Whatsapp und Skype als Bühne

Diese Geschichte spielt sich auf der Bühne des digitalen Raumes, unseren Bildschirmen, ab. Jeder kennt die Oberfläche der Chats und Apps, nur kennt jeder nur den eigenen. Und jetzt sehen wir ständig nur Werthers. Dieser Perspektivwechsel macht diese Inszenierung so privat, lebendig und doch universell verständlich. Solch eine Intimität entsteht selten in einem Theatersaal, in welchem man mehrere Meter von der Bühne entfernt sitzt. Als Zuseherin sehe ich eine Lebensrealität, die meiner ähnelt.

Das Stück ist digital; dadurch gleich filmisch und trotzdem hat sich mir während der Vorstellung immer wieder die Frage aufgedrängt: was genau ist daran Theater? Der Stream ist nur zu einer bestimmten Vorstellungszeit verfügbar, die Grundlage ist ein Klassiker, statt körperlicher Präsenz, teilt man sich den digitalen Raum und sonst? Dennoch: als neue Sparte funktioniert dieses “digitale Theater” und findet in unserer digitalisierten Welt seine Berechtigung.

Für jeden, der sich bisher vor digitalem Theater gesträubt hat und für jeden, der einen aktualisierten Werther sehen will, ist diese Inszenierung eine große Empfehlung! Während dieser Artikel entstand ist das Stück von den LeserInnen von nachtkritik.de zum virtuellen Theatertreffen eingeladen worden und ist somit eine der wichtigsten Inszenierung des Jahres 2020!

Gespielt wird nochmal im Februar und März, Infos und Tickes gibt es hier.