Bohema Magazin Wien

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White Lotus à la Nesterval

Sex, Alkohol und Schokolade: Nestervals Fürst*in Ninetta ist ein berauschender Abend, finanziert vom Strauss-Jahr. Mit Strauss hat er wenig am Hut, aber er ist einer der besten Shows der immersiven Supertruppe.

Choreografierter Rassismus zum Donauwalzer /// Victoria Nazarova ©

Eine Version dieses Artikels ist in der ‘Presse’ erschienen.

In einer blauen Grotte bieten mir zwei verkaterte Prostituierte LSD an. Wer kann da schon nein sagen? Gerade bin ich noch ins 2020 geschlossene Dianabad gegangen, jetzt sind wir im verzaubert-nebligen Hotel Nesterval, es ist 1974 und ich tauche begeistert in ein immersives Theatererlebnis der absoluten Sonderklasse ein. Etwas weiter erzählt an der Bar der fesche Bademeister schlüpfrige Gschichterl, es ist Regisseur und Nesterval-Gründer Martin Finnland, der mich dann prompt in sein Wärterhäuschen entführt. Er ist ABBA-Fan und hört auch Ninetta gern, erzählt er, während er mich anbaggert. Wir sind schon fast am Knutschen, als er beruflich raus muss, weil jemand vom Beckenrand ins Bällebad springt.

Jugendfrei? Pfff…

Mein Urlaubsflirt eifert mit einer der beiden Hotelkurtisanen um die Gunst des frechen Badegasts um die Wette, die ihn nach seinem Bad am liebsten trockenblasen möchte... Der Abend ist alles andere als jugendfrei, die wenigen Freuden des Erwachsenenlebens werden in großen Zügen genossen: Alkohol und Schokolade sind hier im Gegensatz zu den Drogen sehr echt, der Sex ist irgendwo dazwischen. Meine Affäre mit dem Poolmeister nimmt ein jähes Ende, er schleppt als nächstes den Kollegen von der Krone ab. Immer diese Konkurrenz...

Die Story entfaltet sich aus den Begegnungen, es steht eine Hochzeit an, wo auch die ominöse Ninetta auftreten soll ein*e Sänger*in, die schon im Original von Strauss zwischen den Gendern wandelt. Nesterval ist eine queere Kompanie, eine Idealbesetzung für dieses Stück. Überall warten phantastische Abenteuer und Shots, als wäre man in einem Computerspiel. War die Welt wirklich so ein voyeuristisches Spektakel, bevor alle in ihren Bildschirmen verschwanden, oder war das auch früher nur in Tschechowdramen so? Handys sind im Hotel Nesterval verboten, wer sich langweilt, kann sich am beeindruckend detailreichen Bühnenbild ergötzen. Hier sind also die 22 Millionen vom Strauss-Jahr hingeflossen. Eine lohnende Investition, auch wenn der Abend mit Strauss nur wenig zu tun hat, statt Polkas läuft James Last und Raffaella Carrà.

Die große Hochzeit geht in die Hose, da die Braut die Stiefschwester des Bräutigams ist. Danach vertröstet mich eine gehörlose Dealerin. Upper oder Downer? Wir werden sehen. Auf einem Hotelzimmer ziehe ich mit einer der Prostituierten (Julia Fuchs) etwas Kokain, Strauss-Jahr-Intendant Roland Geyer schaut amüsiert zu. Sie waren wild, die 70er. Im nächsten Zimmer werden wir in Vodka ertränkt, während sich im Bett vor uns ein Baron von einer nackten Sexarbeiterin mit einer Peitsche bearbeitet wird. Danach singen wir auf Ouzo David Bowie, während uns die Hotelkosmetikerin die Fingernägel pink lackiert. Ob die Macher der Erfolgsserie The White Lotus bei Strauss abgeschrieben haben oder Nesterval bei HBO ist unklar, die Parallelen sind jedenfalls unübersehbar.

Höhepunkt in der Sauna

Kurz vor Mitternacht führt uns unsere treue Kurtisane zu Ninetta in die beheizte Sauna, ein kathartischer Höhepunkt dieser berauschenden Nacht. Zu Mitternacht gibt es zum ersten Mal Strauss: Zum Donauwalzer, der im Dianabad uraufgeführt wurde, vermöbeln die weißen Ensemblemitglieder choreografiert die einzige Person of Color, den schillernden Kassim Pascha (Chris Pfannebecker), der auch in der Operette von Strauss wegen seiner Hautfarbe für einen Kriminellen gehalten wurde. Der plötzliche Ausbruch von Rassismus zerstört die Feierlaune, während aus den Boxen „Felicità“ dröhnt (eigentlich ein 80-er-Hit), verkriechen sich die Gäst*innen in ihren Zimmern, traumatisiert von dem, was sie angestellt haben.

Alle 25 Aufführungen sind ausverkauft, es wäre schön, wenn von den Strauss-Millionen noch etwas übrig wäre, um eine zweite Serie anzusetzen. Ein Nesterval-Fan schwärmt beim Applaus, das sei überhaupt die beste Show der Erfolgstruppe gewesen. Gut möglich, Nestervals Fürst*in Ninetta ist immersives Theater vom Besten. Therapeut*innen müssten sowas für Depressive verschreiben, es macht Lust aufs Leben und erinnert daran, dass auch der Alltag Theater. Wenn man sich geschickt anstellt, dann ebenfalls nicht jugendfrei.