Bohema Magazin Wien

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„Wir sind alle Kassandra“

Wie ein Kollektiv aus drei Komponistinnen, zwei Sängerinnen, Produzentinnen und der Regisseurin und Künstlerin Kapitolina Tcvetkova gemeinsam eine neue Oper für die Musiktheatertage produzierten: ein Gespräch.

Marionetten, oder nicht? /// Musiktheatertage (c)

Die Musiktheatertage Wien sind mittlerweile mit lauten zeitgenössischen Produktionen im vollen Gange. Zwei Abende (16. und 17.9.) davon waren der Oper Kassandra gewidmet. Wir haben vor der Premiere am 8. September in Stuttgart mit Kapitolina Tcvetkova (*1992), (Musik-) Theaterregisseurin, Bühnenbildnerin und Künstlerin, über die Vorbereitungen, Herausforderungen der Arbeit im Kollektiv und den Reiz am Puppenspiel gesprochen.

Bohema: Hey Kapitolina, vielen Dank, dass du dir die Zeit für ein Gespräch nimmst. Wie laufen die Vorbereitungen zur Premiere in Stuttgart? Wie ist deine Stimmung?

Kapitolina: Wir sind in der letzten Probenwoche, also in der intensiven Phase, in welcher alles irgendwie sehr zerbrechlich und gleichzeitig sehr gefestigt ist. Kassandra ist eine sehr technische Performance, weil sie sehr minimalistisch ist. Und immer, wenn man es sehr clean und minimalistisch haben möchte, braucht es viel technische Arbeit im Hintergrund. Meine Arbeitsweise kann dabei sehr anstrengend für das Technikteam sein, da ich zwar sehr effizient, aber auch sehr fordernd bin.

B: Und wie ist dein Level an Aufregung und Anspannung?

K: Es ist ein besonderes Projekt für mich, da es mich schon lange beschäftigt. Es gibt viele solche Projekte, die einfach unter der Oberfläche mitlaufen, aber Kassandra wurde besonders intensiv im Zeitraum von über einem Jahr erarbeitet. Es gibt viele Klangobjekte und Klangkörper, welche alle in Handarbeit entstanden sind. Ich bin unglaublich gespannt, aber ich kann mich auch nicht mehr wirklich von diesem Projekt lösen, weil es so eng mit mir verbunden ist.

B: Das Kollektiv Kassandra besteht aus 6 Frauen. Wie habt ihr zueinander gefunden?

K: Den kreativen Kern des Teams bilden die drei Komponistinnen, zwei Sängerinnen & Produzentinnen und ich.

Ich hätte gerne auch das Technikteam mit Frauen besetzt,

aber leider scheiterte es an Verfügbarkeiten. Die zwei Sängerinnen [Lena Spohn und Julia Sophie Hagemüller – Anm. d. Verf.] kennen sich seit ihrer Kindheit, haben jedoch vorher noch nie zusammengearbeitet. Über Christa Wolfs Kassandra entstand dann die Idee, jenen mythischen Stoff zu verarbeiten. Zuerst haben sie Huihui Cheng, dann Anna Korsun und Katharina Roth eingeladen. Ich war die Letzte, die dem Team beitrat und meine Einstellung war sofort: ‚Jetzt haben wir alles. Let’s do it!‘ Ich habe mich mit jedem Teammitglied individuell getroffen, weil ich wissen wollte, was da ist, was sie vom Stück wollen und daraufhin habe ich meine Vorstellungen mitgeteilt und Angebote gemacht.

B: Wie ist denn dein persönlicher Zugang zur Figur Kassandra? Welche Anteile Kassandras findest du in dir selbst wieder?

K: Es gibt so viel, aber neben ihrer prophetischen Gabe reizt mich vor allem ihre Rolle als Frau im Krieg. Für mich persönlich ist das sehr komplex. Anna Korsun ist Ukrainerin, ich bin Russin und wir haben dieses Jahr des Wahnsinns gemeinsam durchlebt.

Der Krieg war ein stetiger Begleiter dieser Performance

und ist so natürlich mit ihr verbunden. Wir haben unsere Erfahrungen nicht explizit eingeflochten, jedoch gab es viel Verarbeitung des Schmerzes während des Prozesses. Das ist, glaube ich, mein Kassandra-Moment. Dazu kommt die Schwierigkeit als Frau nur Beobachterin des Krieges sein zu können. Männer müssen in den Krieg ziehen, Frauen nicht, auf der anderen Seite können sie aber nicht wirklich etwas tun. Man hat als Frau keinen großen Einfluss auf die Situation und wenig Handlungsspielraum. Nur der Wiederaufbau nach einem Krieg liegt meist in den Händen der Frauen.

Kassandra wird bei ihren Prophezeiungen nicht geglaubt. Während unserer Arbeit wurde offenbar, dass wir es nicht gewohnt sind, in einem explizit weiblichen kreativen Prozess zu sein, also nur mit Frauen zu arbeiten. Wir haben viele tiefe Unsicherheiten entdeckt, welche uns vom tatsächlichen kreativen Prozess abhalten. Es war emotional sehr angespannt, denn natürlich sind wir als Künstlerinnen auch irgendwie Prophetinnen. So sind wir alle Kassandra. Das ganze Team, aber auch das Publikum. Darum steht auch nicht im Zentrum, was ich oder wir als Kollektiv aussagen wollen, sondern was sich gemeinsam mit jede*r Teilnehmer*in bei der Performance entwickelt.

B: Eines eurer zentralen Themen ist Resonanz. Für die Termine in Stuttgart ist das Publikum auf 40, für Wien auf 70 Teilnehmende begrenzt. Würde eure Performance auch in einem größeren Rahmen funktionieren oder geht so die Resonanz und damit eine zentrale Wirkung verloren?

K: Die Körper sollen zum Schwingen gebracht werden, weshalb es nur Sinn macht, dass die Performance eher intim gehalten ist. Denn für mich war die Erfahrung von Nähe zusammen mit der Körperlichkeit der Stimmen besonders interessant. In meinen Arbeiten ist das oft der Fall. Für ein größeres Publikum würde es nur funktionieren, wenn man immer noch die Möglichkeit hat es durch kleine Räume aufzuteilen. Diese Nähe ist wichtig, weil das Material, der Körper, das Fleisch, der Atem, der Schweiß und die Gegenstände, die hauptsächlich aus Porzellan sind, einfach die Erfahrung der Unmittelbarkeit brauchen.

Im Museum stehen wir auch nicht 100 Meter von den Kunstwerken entfernt

Es erfordert eine persönliche Beziehung zu den Objekten, die Dinge theoretisch anfassen zu können und sich in enge Beziehungen zu ihnen setzen zu können.

B: Eine Szene eurer Performance hat durch die verwendeten Fäden einen Marionettencharakter. Auf deiner Webseite ist zu lesen, dass du dich auch immer wieder mit dem Puppenspiel beschäftigt hast. Für mich hatten Marionetten, Puppen und generell die Belebung nichtbelebter Gegenstände immer etwas Unheimliches an sich. Wie bist du zum Puppenspiel gekommen?

K: Mein Vater war Puppenspieler, also bin ich dem Puppenspiel seit meiner Geburt verbunden. Ich war selbst fast wie eine kleine Puppe, hatte somit immer eine intensive Beziehung zum Puppenspiel und damit auch zu Gegenständen. Ich finde es interessant zu sehen, dass vor allem Frauen einen besonderen, belebenden Zugang zu Objekten besitzen. Es gibt eine gewisse Spiritualität und Verbindung zu einem Objekt und es spielt keine Rolle, dass es sich nicht von sich aus bewegt oder spricht. Viele der Künstler*innen, die mit großem Respekt vor den verwendeten Materialien arbeiten, sind Frauen. Ich nehme mir keinen Gegenstand und will damit etwas Bestimmtes aussagen. Ich nehme mir einen Gegenstand und will wissen, was er von sich aus zu sagen hat.

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich eine Pflanzenoper inszeniert, wobei es darum ging, ein System zu entwickeln, in dem Pflanzen die Möglichkeit haben sich auszudrücken. Nicht sie zum Reden zu bringen, nicht auf ihnen zu spielen oder sie als Transistor zu benutzen. Was haben die Dinge zu sagen? Und auch bei Kassandra geht es nicht darum, die Objekte zu beleben, sondern einer Sache, einem Gegenstand Aufmerksamkeit zu schenken und zuzuhören. Die Fäden in der ersten Szene z. B. können ein Atemgeräusch erzeugen, die Rollen wiederum den Sound von vielen sprechenden Wesen. Die Sängerinnen und ihre Körper sind nicht die Protagonistinnen. Körper, Raum und Gegenstand bilden eine Einheit und ihr Zusammenspiel, ihr Verhältnis zueinander lässt etwas entstehen. Es geht bei den Fäden also nicht darum, dass sich die Personen gegenseitig manipulieren. Ich würde fast sagen, dass wir eher die Menschen benutzen, um das volle Potenzial aus den Objekten herauszuholen und sich somit das Objekt zeigen kann. Natürlich erzählt alles gemeinsam dann die Geschichte der Schicksals- und Lebensfäden, der Verbindung in gleichzeitiger Abhängigkeit.

B: In eurem Kollektiv gibt es keine Hierarchien und ihr stellt klar, dass ihr gleichberechtigt miteinander arbeitet. Wie funktioniert die horizontale Arbeitsweise bei euch und hast du Ratschläge für andere Menschen, insbesondere Frauen, die in Kollektiven arbeiten möchten?

K: Eine große Erleichterung ist es, wenn man sich vorher bereits kennt, sodass man um die Stärken und Schwächen der jeweils anderen Personen weiß. Jede Person muss in ihrem Bereich kompetent sein und dieser Bereich muss klar abgesteckt sein. Natürlich kann man Input und Feedback geben, aber die Entscheidungshoheit über den jeweiligen Bereich liegt bei der verantwortlichen Person. In der bildenden Kunst ist diese Arbeitsweise definitiv weiterverbreitet als in der klassischen Musik- und Theaterszene, darum führt so etwas immer wieder zu Verwirrungen. Eine grundsätzliche Offenheit ist enorm wichtig, beim gleichzeitigen Bewahren der Identitätsblase und der Komfortzone. In meiner Arbeit dachten sich die entsprechenden Komponistinnen nicht nur einmal ‚Was zum Teufel willst du von mir?‘

Doch genau im Hinterfragen der eigenen Komfortzone liegt der besondere Reiz des künstlerischen Prozesses.

B: Vielen Dank und toi, toi, toi für die Premiere in Stuttgart!