Bohema Magazin Wien

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Zeig mir deinen Desktop und Ich sage Dir wer du bist

Das Kollektiv punkt.live schafft mit seinem zweiten Stück frei nach Anton Tschechovs „Möwe“ wieder eine Punktlandung.

Ich hab doch den Stream auf Vollbildschirm gestellt? Ich brauche ein bisschen, bis mir klar wird, dass ich nicht mein Instagram-Profil, meinen Youtube-Portal oder meine Notizen sehe, sondern jenen von Kostja, alias Regiestudent und Verfechter der digitalen Künste an der UDK Berlin, der mir auch gleich seine Urlaubsfotos zeigt. Und ich bin wieder überrascht, wie intim eigentlich ein Desktop sein kann. Wie viel nicht geschlossene Tabs, nebenbei getätigte Google-Suchen und Hintergrundbilder erzählen können.

Kostjas Bildschirm /// (c) punkt.live

Kurz zur Handlung: Kostja (Nils Hohenhövel), seine Freundin Nina (Klara Wördemann) und sein Freund Mascha (Jonny Hoff) machen gemeinsam mit Kostjas Mutter Arkadina (Ulrike Arnold) und ihrem Freund Trigorin (Janning Kahnert) Urlaub in Frankreich. Alle sind sie in der Kunstbranche tätig, Trigorin ist ein bekannter Videokünstler, der die Zeit in einem Videotagebuch festhält. Seine immer laufende Kamera bleibt auf Nina hängen, er zoomt heran, sie streicht sich unsicher eine Locke aus dem Gesicht.

Bittersüße Nostalgie

Ein Instagram-Post reißt Kostja aus der Erinnerung, Nina ist inzwischen mit Trigorin zusammen, auf Social Media soll sie die Beziehung trotzdem nicht öffentlich machen. Mascha hat geheiratet, betrinkt sich auf die Frage, ob er denn glücklich sei, Kostja schreibt frustriert Buchstabenreihen in sein Dokument. Die Vergangenheit ist für keinen der drei erloschen. Wird das Leben je wieder so leicht sein können?

Sommerliebe in Frankreich zwischen Kostja (Nils Hohenhövel und Klara Wördemann) und Nina /// (c) punkt.live

Wie schon in werther.live gelingt es dem Kollektiv, aus dem klassischen Stoff ein sehr heutiges Lebensgefühl herauszuarbeiten. Trigorin filmt einen Moment länger sein eigenes Spiegelbild, Kostja betrachtet sich selbst im leeren Zoom. Die andauernde Selbstbetrachtung übersetzt sich mühelos in digitale Welten: Egal ob Kostja seine eigenen Instagramposts ständig wieder durchlesen muss oder Nina unter Tränen einen „Ich fühle mich fröhlich“- Facebookpost auf dem Weg zu ihrem nächsten Vorsprechen macht. Die Kraft, die es den Figuren kostet, ihre Fassaden aufrecht zu erhalten, wird mir verständlich und die Figuren sind so nah an meiner Lebensrealität dran, wie ich es Figuren aus der Möwe nie zugetraut hätte.

Warum Klassiker zeitlos sind

Meine Mutter, die während der Premiere neben mir sitzt, schüttelt den Kopf. Das sei ja „total oberflächlich“ wie die miteinander sprechen, außerdem komme man bei den ganzen parallel laufenden Chats ja gar nicht mit und überhaupt wer sind diese Frauen (gemeint sind die in den Chat eingebauten GIFs)? Ich muss schmunzeln, als Kostja seiner Mutter Arkadina in einer Sprachnachricht vorwirft, sie könne seine „neuen Formen“ eben auch nie verstehen. Wobei ich ihr recht geben muss, dass die Figuren durch mehrere Puzzlesteine und Medien zusammengesetzt und dadurch zunächst irgendwie kernlos bleiben. Doch gegen Ende schaffen es die drei Schauspieler*innen Nils Höhenhövel, Klara Wördermann und Jonny Hoff, die Bildschirmoberfläche aufzubrechen: Wir finden uns in einem Zoom-Call mit Kostja und Nina, sie probt mit ihm ihre Rolle fürs Vorsprechen – jenen berühmten Abschlussmonolog von Nina aus der Möwe. Und es wird einem klar, dass alte Texte uns sehr wohl von Gefühlen erzählen, die uns bis heute begleiten, und dass es auch digital möglich ist, mit einer Figur mitzuweinen.

Trigorin filmt sich und seine Frau Arkadina (Janning Kahnnert und Ulrike Arnold) /// (c) punkt.live

Hybride Inszenierungen und den Willen zu „neuen Formen“ gab es im letzten Jahr zuhauf, ob VR-Brillen, Theatergames oder interaktive Streams. Was die Inszenierungen von punkt.live so besonders macht, formuliert Kostja selbst am besten. Seine Tweets lesen sich wie eine Reflexion von Regisseurin Cosmea Spelleken über ihre eigene Arbeit:

„Ich komme mehr und mehr zur Überzeugung, dass es nicht um alte oder neue Formen geht, sondern darum, dass die Formen ihre Bedeutung verlieren, weil der Inhalt einfach so erzählt wird, dass es einem aus der Seele strömt.“

Die Frage, welche Inhalten man in welchen Formen erzählen möchte, sollten sich die Theater einmal so radikal stellen wie dieses Team.