Travel Guide: Station 1, Le Rayon Vert, Frankreich
Die erste Station unseres filmischen Reiseführers führt uns mit Éric Rohmer an die schönsten Orte Frankreichs.
Der Sommer hat uns jetzt schon seit geraumer Zeit erreicht und wir erleben immer wieder Tage, an denen unser Blut kocht, unsere Haut tropft und unser Gehirn unter dem Hitzestress vollkommen herunterfährt. Zum Glück hat der Mensch schon seit Langem eine Lösung gegen die sommerlichen Übel gefunden: den Urlaub. Na ja, einige Menschen müssen arbeiten, Hausarbeiten schreiben oder sonstige lästige Pflichten erfüllen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es noch so etwas wie eine globale Pandemie gibt, welche zwar den Anschein erweckt auszuklingen, aber dennoch in vielen Menschen berechtigte Reisezweifel auslöst. Für diese Gruppen haben wir Bohemas uns entschieden, einen alternativen filmischen Reiseführer zu präsentieren.
In Edward Yangs taiwanesischem Meisterwerk Yi Yi fällt der Satz: "Mein Onkel sagt, dass der Mensch dreimal so lange lebt, seit er den Film erfunden hat”.
“Das heißt, der Film gibt uns doppelt so viel wie das tägliche Leben"
Lasst uns dieses Mehrerleben doch nicht nur auf einer zeitlichen Ebene betrachten, sondern auch auf den Raum erweitern. Der Film ermöglicht uns nicht nur dreimal so viel Zeit zu erleben, sondern auch ein Vielfaches an Orten, welche uns im Alltag verwehrt blieben, zu besuchen. Auf dieser Grundlage stellen wir euch wöchentlich je einen Film aus den verschiedensten Ländern vor, welche durch ihre sommerliche Atmosphäre, interessante Örtlichkeiten und nationale Kulturen als einfach zugängliches, günstiges Substitut für den verhinderten Urlaub dienen. Auch wenn ihr diesen Sommer Reiseabenteuer in der realen Welt bestreitet, seid ihr selbstverständlich eingeladen, durch den digitalen Bildschirm die vorgestellten Reiseziele zu betreten.
Erster Halt: Frankreich
Unseren ersten Zwischenstopp auf unserer filmischen Sommerreise legen wir in Éric Rohmers Le Rayon Vert ein. Le Rayon Vert, dieser Titel bedeutet übersetzt so viel wie "Der grüne Strahl" und lässt sich auf ein Naturphänomen zurückführen, bei welchem das letzte Licht der untergehenden Sonne in einem wunderschönen Grün erstrahlt. Der Titel des Films wurde hierbei von einem Roman des - wohl wie Rohmer von diesem seltenen Phänomen faszinierten - Jules Verne übernommen. Rohmer begleiten wird aber in diesem melancholischen Werk nicht auf eine Reise zum Mittelpunkt der Erde, sondern auf eine Reise in das Innerste seiner Protagonistin... Und zugleich durch einige wunderschöne französische Urlaubsorte!
Der Film entstammt einer Reihe von sommerlichen Filmen der Nouvelle-Vague-Ikone Éric Rohmer. Während dieser in seinem Frühwerk noch starke Parallelen zu seinen filmischen Verwandten aus dem Umkreis der Cahiers du Cinema aufwies, widmete er sich nun sommerlich-leichten romantischen Komödien voller interessanter (zum Teil improvisierter) Gespräche und sommerlich- idyllischer Orte. Le Rayon Vert entstammt hierbei dem Zyklus "Komödien und Sprichwörter, welcher aus sechs Filmen besteht, denen jeweils ein Sprichwort als grobe Vorlage dient. Diesem Film liegt der Spruch "Oh lass die Zeit kommen, da Herzen sich verlieben" von Arthur Rimbaud zugrunde.
Die Protagonistin Delphine (Marie Rivière, auch Drehbuchautorin!) befindet sich in einer schwierigen Situation. Es ist Mitte Juli, sie hat Urlaub, aber ihre Freundin sagt die gemeinsam geplante Reise nach Griechenland ab. Delphine stellt sich nun die schwierige Frage, ob sie zu Hause bleiben, mit ihrer Familie nach Irland reisen oder alleine in den Urlaub fahren soll. Sie entscheidet sich letztendlich für die letzte Option.
Eine Vielzahl wunderschöner Orte
Schließlich begleiten wir sie nicht nur an ein Urlaubsziel, sondern direkt an eine Vielzahl französischer Traumorte, darunter sattgrüne Gärten in Cherbourg sowie die wunderschönen blauen Strände von Biarritz und Saint-Jean-de-Luz, ja es ist für die Strandhasser sogar eine kurze Zwischenstation in den Alpen zu genießen. All diese Orte eignen sich aufgrund ihres nostalgisch-warmen Ambiente natürlich für einen schönen eskapistischen Nachmittag als Antidot gegen das Fernweh, welches durch den Mobilitätsraub der Pandemie wohl in uns allen ein wenig geweckt wurde.
Ich muss euch dahingehend aber ein wenig vorwarnen. Die Stimmung mag aufgrund der Settings zwar leicht und warm sein, das heißt jedoch nicht, dass wir uns gedanklich auf keinerlei Negativität einlassen müssen. Ganz gegenteilig strömt der Film vor einer starken Melancholie, welche antagonistisch zu vieler seiner Bilder steht. Delphine, überfordert von der Planlosigkeit ihrer Ferien, hat stets mit ihrer isolierten Lage, ob in ihrer Heimat Paris oder in ihren Reisedestinationen, zu kämpfen. Sie ist äußerst schüchtern, unentschlossen und wird von vergangenen misslungenen Beziehungen geplagt.
Eine interessante Verbindung zum vergangenen Jahr
Bei genauerem Hinschauen können wir hierbei ein interessantes Verhältnis zu unserem vergangenen Corona-Jahr erkennen. Während die Pandemie uns daran gewöhnt hat, durch Programme wie Zoom zu Hause in Einsamkeit Gesellschaft zu erleben, erinnert uns Le Rayon Vert daran, wie es sich anfühlt, in Gesellschaft Einsamkeit zu spüren. Delphine ist nicht nur auf ihrer einsamen Reise oft isoliert, nein sie scheint sogar in Gesellschaft immer getrennt von der sie umgebenden Gruppe zu sein. Dies drückt sich explizit aus, wenn sie sich als alleinige Vegetarierin am Tisch der Karnivoren wiederfindet und unter Rechtfertigungsdruck gerät. Ein Phänomen, welches sich durch den ganzen Film hindurch zieht.
Le Rayon Vert besticht mit wunderschönen Bildern, einer enormen Zärtlichkeit im Umgang mit seinen Figuren und mit einer ganzen Menge hochinteressanter Gespräche. Hierbei lassen sich sogar - passender könnte es kaum sein - spannende Reflexionen über das Verreisen an sich wiederfinden.
Als reinen Eskapismus können wir diese Reihe an Kurzurlauben zwar trotz ihrer himmlischen Orte nicht genießen, aber was ist denn ein gelungener Sommer ohne eine kleine Prise Summertime Sadness? Hoffen wir, dass sich das grüne Leuchten diesen Sommer nicht nur auf die Sonne beschränkt, sondern sich auf die Corona-Ampel ausbreitet und wir unbeschwert die schönste aller Jahreszeiten genießen können!