Sterne unter der Stadt: Gaslighting für Fortgeschrittene

Sterne unter der Stadt ist das Spielfilmdebüt von Chris Raiber. Der Film wird als RomCom beworben, er ist jedoch so viel mehr. Zum Guten wie im Schlechten. Das Review enthält SPOILER

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Das ist eine Liebesgeschichte…“ eröffnet der omnisziente Erzähler. Und zwar die von Alexander (Thomas Prenn) und Caro (Verena Altenberger). Alexander ist ein seltsamer Typ, der sich geschworen hat, sich nie zu verlieben, um nicht wie sein Vater zu enden. Denn dieser lebt im Untergrund von Wien, um der verstorbenen Ehefrau näher zu sein. Doch eines Tages fällt Alexanders Augenmerk auf Caro, die im Geschäft gegenüber arbeitet, und sie fasziniert ihn. Zwar will er ihr keine Avancen machen, aber sie geht ihm nicht aus dem Kopf. Deshalb sprüht er ihr Antlitz und die titelgebenden Sterne auf die Mauern des U-Bahn-Tracktes. Da das jedoch immer noch nicht genug ist, macht er dann doch einige künstlerische Annäherungsversuche. Und siehe da: es klappt. Nach ersten flüchtigen Treffen bahnt sich eine Freundschaft und vielleicht auch mehr zwischen Caro und Alexander an. Doch Caro hat ein Geheimnis, für dessen Offenbarung sie noch nicht bereit ist…

Die Fabelhafte Welt von Manic Pixie Dreamboy Benjamin Button

Österreichische Filme – und vor allem Komödien - sind schon ein eigenes Kaliber. In den 90ern war vor allem das Genre der Kabarettfilme beliebt. Klamauk, mal mehr, mal weniger lustig. In der vergangenen Dekade haben dann die Stadtkomödien ein eigenes Format bekommen, und wurden zum Teil sogar im Kino ausgestrahlt. Aber RomComs, wie etwa „Love Machine“, sind eine Seltenheit. Und jetzt kommt „Sterne unter der Stadt“ daher, und benimmt sich ein wenig an den 20 Jahre alten Kultfilm „Die fabelhafte Welt der Amelie“: Quirkyness und seltsame Situationen stehen an der Tagesordnung. Der allwissende Erzähler gibt sehr viel skurriles Hintergrundwissen zu den Figuren. Ein Running Gag mit dem fantastischen Erwin Leder wird sogar fast 1:1 aus dem Film „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ geklaut. Auch wird die Kamera vielseitig eingesetzt, und bietet mehr als generische Standardeinstellungen. U.a. gibt es CGI-Fahrten vom Nachthimmel in den Untergrund von Wien, oder eine tolle Einstellung von Außerhalb in das Blumengeschäft, Filmszenen aus Western werden simpel nachgestellt, und mehr.

Entschuldigung, riecht dieses Taschentuch nach gaslighting?

Den Film als reine RomCom zu bezeichnen, könnte aber auch ein schwerer Fehler sein. Denn es ist auch sehr stark ein Drama, und nimmt einige dramatische Wendungen. Generell muss man auch sagen, dass der Film die ganze Zeit über auf dem schmalen Grat zwischen kitschig/ romantisch und creepy wandelt. Alexander macht einen Animationsfilm als Überraschung für Caro, der gleichzeitig auch ihre Intimsphäre verletzt und nach außen hinträgt. Und das passiert im „RomCom“-Teil der Geschichte.

Im letzten Akt wird dieser schmale Grat aber eindeutig überschritten, und die Geschichte wird creepy. Alexander gaslightet Caro, und der Film wurde für mich zu einer unheimlichen Erfahrung. Ihr wird die Kontrolle über ihr Leben und ihre Selbstbestimmung genommen, ohne, dass es ihr bewusst wird. Hier wandert der Film eher auf den Spuren von Thrillern wie „Misery“ oder „Berlin Syndrom“. Das Schlimmste dabei ist, dass es als romantische Tat verkauft werden soll. Ich will nicht zu viel dazu verraten, was genau passiert, allerdings gibt der englische Titel des Films einen guten Hinweis.

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WARNUNG. Konkrete SPOILER im nächsten Absatz

Verena Altenberger ist großartig. Ihre Performance als Caro, dem gewöhnlichen Mädchen von nebenan, ist derzeit sicher eine ihrer stärksten Darbietungen. Für die Rolle war die Schauspielerin auch bereit für eine äußerliche Veränderung, und hat sich den Kopf kahlscheren lassen. Die Reveal-Szene ist großartig gespielt, und auch sonst darf sie auch als Krebs-Patientin brillieren. Hier sind die emotionalen Momente des Filmes, in denen auch die eine oder andere Träne vergossen werden darf.

SPOILER-ENDE

„But I’m a Creep. I’m a Weirdo “

Weniger positiv gestimmt bin ich auf die Figur „Alexander“. Irgendwann ist es scheinbar der Usus geworden, dass „komische Käuze“ in Filmen immer still, ruhig und eher emotionslos agieren, und im Geheimen ihrer Leidenschaft frönen. Hierbei wird aber vergessen, dass auch dieser Typ Mann laut, freudig und emotional sein kann.

Er ist nicht nur das Gegenteil zu Altenbergers Darstellung, er ist auch das genau Gegenteil eines Manic Pixie Dreamgirl. Er ist womöglich ein Manic depressed Dream-Creep.

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Fazit: Problematische Tragik-RomCom

Ich bin sehr zwiegespalten, was „Sterne unter der Stadt“ anbelangt. Ich finde prinzipiell gut, wie die Geschichte erzählt wird. Nur ist das, was das Erzählte impliziert, ein Problem. Und da es eine (Tragik-)RomCom sein soll, und kein Thriller, in dem eine selbstbestimmte junge Frau durch eine Krankheit und Verblendung soweit in die Abhängigkeit eines Stalkers getrieben wird, dass sie jegliches Zeitgefühl verliert, sollte das definitiv diskutiert werden.

Definitionen und Begrifflichkeiten

Gaslighting: Eine form psychischer Gewalt und Manipulation. Jemandem, meistens Frauen, etwas mit Nachdruck durch Lügen und Betrügen einreden, was gar nicht stimmt. Die Person beginnt, an ihrer eigenen Wahrnehmung und Verstand zu zweifeln. Der Begriff stammt aus dem Film Gaslight (1940) bzw dessen gleichnamigen Theaterstück (1938)

Manic Pixie Dreamgirl: Ein weiblicher Figuren-Stereotyp. Eine meist von Männern ausgehende Beschreibung für eine Frau, “die nicht so ist wie die anderen.” Der Inbegriff des Wortes quirky (quirlig, aufgeweckt, individualistisch). Gibt dem (männlichen) Protagonisten eine Bedeutung. Siehe die Filme “Garden State“, “Sweet November“, “Scott Pilgrim vs the World“,…

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