Gedankenspiele ohne Regeln
Das neue Buch von Clemens Setz spürt den unzähligen Schattierungen der Wahrheit nach.
Der Essay Gedankenspiele über die Wahrheit befasst sich nicht philosophisch mit der Pilatus Frage: Was ist Wahrheit? Vielmehr spielt der Text mit humorvollen Beobachtungen, die die Ambivalenz der Wahrheit offenlegen. Er schreibt: „Wahrheit ist ein Begriff, mit dem die Menschen seit Jahrhunderten einander geißeln.” So bringt uns Clemens Setz die Wahrheitsvorstellungen der unterschiedlichsten Menschen näher.
Ekstatische Wahrheiten
Einer seiner unterhaltsamsten Exkurse bildet jener in die ekstatischen Wahrheiten des Regisseurs Werner Herzog. Dieser ist berühmt dafür, seine Dokumentationen stark zu inszenieren, um eine tiefere Wahrheit hinter dem Mitgefilmten freizulegen. So porträtiert er in einer rührenden Szene das Schicksal eines Kriegsgefangen namens Dieter Dengler, welcher unablässig eine Tür öffnet und schließt. Er ist erstaunt über diese grundlegende Freiheit, Clemens Setz jedoch offenbart dessen Hintergrund: „Die Szene wurde allerdings von Herzog hinzuerfunden, sie kam nicht aus Dengler selbst. Dieser wehrte sich sogar eine Weile gegen diese Inszenierung, da er fürchtete, in der Szene albern zu wirken, aber ließ sich am Ende von Herzog überzeugen, als dieser ihm versicherte, Frauen würden ihn in dieser Szene unwiderstehlich finden.” Herzogs Vorstellung vom Film als gesteigerter Wirklichkeit und damit Wahrheit, findet in dieser Anekdote einen beinahe lächerlichen Ausdruck und verschafft uns einen neuen Zugang zu seinen Dokumentarfilmen. Lügen, welche die Wahrheit sagen, sind ein zentrales Thema des Essays. Jedoch urteilt Clemens Setz nicht über die unterschiedlichen Auffassungen von Wahrheit, sondern stellt diese auf spielerische Weise gegenüber. Somit bildet das schmale Buch eine Fundgrube von Beobachtungen, die als Sprungbrett genutzt werden können, um sich mit den Ereignissen und Persönlichkeiten im Buch ausgiebiger zu beschäftigen.
Kleine, ungeahnte Augenblicke
Auch der Wahrheitsbegriff des Autors selbst wird am Ende der Abhandlung zum Thema gemacht. Für Clemens Setz zeigt sich Wahrheit in kleinen, ungeahnten Augenblicken des Lebens, welche er auch die “poetischen” nennt. Diese eröffnen uns einen neuen Blick auf das Gegebene und können sich sogar in kurzen Sätzen vollziehen. So zitiert er einen Charakter aus dem Film “Solaris” von Andrei Tarkowski, der seinem Sohn davon abrät, in den Weltraum zu fliegen: „Du bist viel zu schroff! Leute wie du sollten nicht ins Weltall. Dort ist alles so zart, so zerbrechlich!” Nicht nur in der Kunst begegnen wir solchen Erfahrungen, auch in den trivialen Geschehnissen des Alltags, so zeigt uns der Text, erscheinen sie uns. Diese Wachheit gegenüber den überraschenden Ereignissen des Daseins, welche die Dinge unversehens in ein neues Licht rücken, begleitet auch das gesamte Buch.