Grazer Grenzgang

Eine Vermesserin auf der Suche nach Ordnung, Grenzen und dem Sinn des Ganzen im Schauspielhaus Graz.

Foto: Lex Karelly

Foto: Lex Karelly

Nein, wir sind nicht dort, wo wir sein sollten (im Zuschauerraum eines Theaters, ein Ort, den wir schon fast vergessen haben). Das verbindet uns mit der Landvermesserin (Katrija Lehmann) aus der österreichischen Erstaufführung von Thomas Köcks „dritte republik.“ Zumindest hat sie eine scheinbar klare Aufgabe: Sie ist vom Verwaltungsamt geschickt worden, die Grenze zu vermessen, Ordnung ins Chaos zu bringen. Wo sich diese Grenze jedoch befindet, bleibt genauso unklar wie die Frage, um welche Grenze es überhaupt geht. Ausgehend von dieser kafkaesken Grundsituation spannt das Stück ein weites Bedeutungsfeld auf. Wo fängt der Staat an, wo hört er auf? Welches Chaos wird hier angesprochen? Welche Spaltung findet hier statt oder hat bereits stattgefunden? Um welche Nation, welche Republik geht es hier eigentlich? Oder haben Nationalgrenzen ihre Bedeutung bereits verloren?

Darsteller wie vom Mars im Kampf mit sich und der Welt

Verloren wirkt auch die Landvermesserin, obwohl sich die Ausgesetztheit, etwa während des über weite Strecken des Stückes anhaltenden Schneesturms, digital kaum überträgt. Regisseurin Anita Vulescia lässt ihre Figuren permanent gegen etwas ankämpfen: Der Kutscher stolpert über die unebene Bühne, die blinde Fallschirmspringerin verheddert sich im Fluggeschirr und verliert ihre Augen, der Patient bleibt mit dem Kopf in einem Loch stecken, der Reeder steckt in einem einengenden Korsett. Ihre Not überträgt sich allerdings in der Onlineversion, in der ihre Körper seltsam raumlos bleiben, leider weniger. Welche Krankheit herrscht, dass der Kutscher auf einen Doktor wartet? Von welchem Krieg erzählt die augenlose Fallschirmspringerin? Etwas fehlt, dass diese Fragen wirklich über die Bühnenwelt hinaus das Publikum etwas angehen würden. Die Kostüme von Anna Brandstätter unterstreichen diese künstliche Fremde zusätzlich. Das Bühnenbild (Frank Holldrack) erinnert über weite Strecken an eine zerklüftete Marslandschaft, und wie vom Mars übertragen wirken auch die Darstellerinnen im Stream.

Der für die Inszenierung zentrale Chor wird von Vulescia auf einer separaten Videoebene mit einbezogen. Hier stört die Körperlosigkeit der Sprecher*innen nicht; sie erscheinen immer wieder in Übergröße im Vordergrund, um dann Teil des Bühnenbilds zu werden. Durch die schlechtere Übertragungsqualität im Stream verundeutlichen (Wortschöpfung des Monats, Copyright Marie-Theres) sich zusätzlich auch noch die sprachlichen Zeichen. Die Sprecher*innen werden zu Sänger*innen. Durch diese Uneindeutigkeit entsteht ein wirklicher Zwischenraum, als Publikum fühlt man sich eingeladen, dieses Spannungsfeld zwischen inszeniertem Live-Moment und Digitalität zu begehen. Fragen nach dem gemeinsam fühlbaren Raum über Mediengrenzen hinweg stellen sich hier nochmals neu. In diesem Aspekt wird die Inszenierung zu einem wirklichen Grenzgang, in dem es permanent zu Vermessungen kommt.

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