Orchesterspaß für alle

Was man sich in Wien vom Orchestre symphonique de Montréal in Sachen Diversität und Publikumsalter abschauen kann: Am 23. und 24. Oktober spielt das Orchester mit seinem neuen Chef Rafael Payare im Konzerthaus.

Rafael Payare in Action /// OSM, Antoine Saito (c)

„Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Standing Ovations nach Schönberg erlebt habe“, erinnert sich Marianne Perron, Chefprogrammiererin des Orchestre symphonique de Montréal, an die Reaktion des Publikums auf die „Verklärte Nacht“, womit Rafael Payare 2018 sein erstes Konzert mit den Montréalern eröffnete. Konzertmeister Andrew Wan war Solist des Abends und hörte sich neugierig die zweite Hälfte an: „Beethovens Eroica war so inspiriert und aufregend, dass ich sie mir am nächsten Tag nochmal anhörte. Das mache ich sonst kaum.“ Payare selbst fühlte sich sofort wohl mit dem Klangkörper: „Es gab ab der ersten Probe diese besondere Verbindung, alles fühlte sich so natürlich an!“ Es war Liebe auf den ersten Blick auf dem ewigen Datingkarussell zwischen Orchestern und Dirigenten, im Jänner 2021 wurde er als Nachfolger von Kent Nagano designierter Chefdirigent des Orchesters.

Von ‘El Sistema’ nach Montréal

Payare kommt, wie auch Gustavo Dudamel, aus dem venezolanischen Massenmusikprogramm ‚El Sistema‘; Gründer José Antonio Abreu förderte ihn persönlich. Beim Simón Bolívar Orchestra arbeitete er mit Sir Simon Rattle und Claudio Abbado, assistierte später Daniel Barenboim in Europa. Nach dem Gewinn des Malko-Wettbewerbs lud ihn Jurymitglied Lorin Maazel spontan zu seinem Festival in Castleton ein. „Du wirst die Leonore-Ouvertüre Nr. 3 spielen, sagte er, und gab mir seine Noten. Seine Tempi fühlten sich aber nicht richtig an. Ich hatte ziemlich Angst, diktierte trotzdem mein Tempo. Er gab mir danach eine große Umarmung. Nächstes Jahr leitete ich dort Mahlers Fünfte, 2014 wurde ich wieder eingeladen. Er starb am Tag bevor ich ankam.“ Mittlerweile ist er Maazels Nachfolger in Castleton, das Festival findet seit der Pandemie aber vorerst nur im Kleinformat statt.

„Ich glaubte Maazel kaum, als er mir sagte, eines Tages wirst du die Wiener Philharmoniker dirigieren. Mit diesem Orchester musst du tanzen, gleiten, meinte er. Es war fast gespenstig, als er starb, riefen die Philharmoniker tatsächlich an, ich sollte eines seiner Konzerte übernehmen.“ Payare sprang bei seinem Wiendebüt also gleich in einem Abonnementskonzert im Musikverein ein, ging mit dem Orchester auf Tour und wurde 2018 wieder eingeladen. Wenn er nun mit dem OSM nach Wien zurückkehrt, bedeutet es ihm also auch persönlich viel. Natürlich auch wegen des Repertoires: „Mahler oder Brahms in Wien zu spielen, ist wirklich besonders.

Und ich liebe Käsekrainer!“

Am 23. Oktober wird das Orchester den Auftakt zu seiner zweitägigen Residenz im Konzerthaus mit Bruce Liu, dem Gewinner des Chopin-Wettbewerbs geben. Liu wuchs in Montréal auf und gewann den Wettbewerb des Orchesters, bevor er international bekannt wurde, wie schon Jan Lisiecki, oder Angela Hewitt vor ihm. Rachmaninows Paganini-Variationen standen auch vor 60 Jahren auf dem Programm, als der 26-jährige Chefdirigent Zubin Mehta bei der ersten internationalen Tournee eines kanadischen Orchesters überhaupt mit seinem OSM in Wien haltmachte. Charles Dutoit sorgte in seiner 25-jährigen Amtszeit ab 1977 mit etlichen gefeierten Alben für noch mehr Renommee. Sein Nachfolger Kent Nagano dirigierte das OSM dreimal im Konzerthaus, 2018 sogar bei den Salzburger Festspielen.

Mit Payare habe man nun eine Idealbesetzung für die nächste Ära, er passe perfekt zur jungen, diversen Bevölkerung der Stadt, so CEO Madeleine Careau. „Er ist jung, dynamisch, südamerikanisch und bringt von El Sistema die Idee mit, dass Musik für alle zugänglich ist.“ Dafür, dass die Musik tatsächlich bei möglichst vielen ankommt, tun Careau und ihr fast komplett weibliches Leitungsteam seit Jahren viel. Sie gehen in die Schulen und Unis, spielen regelmäßig in den Suburbs und veranstalteten im Sommer das neunte Orchesterfestival, inklusive Eröffnungsakt mit 25 000 Gästen und Gratiskonzerten in der ganzen Stadt.

Alljährlich lockt zudem ein außergewöhnliches ‚Concert éclaté‘ neues Publikum, zum Beispiel mit einem Konzert für DJ und Orchester mit anschließender Party in den Foyers. In der neuen Halle werden die Chorsitze direkt über dem Orchester oft gezielt nur jungen Menschen verkauft, es gibt immer ermäßigte Karten für alle unter 34. „Wir sind die zweitgrößte Universitätsstadt in Nordamerika, wir müssen das tun“, so Careau. Vielleicht könnte man sich hier etwas abschauen, Wien hat die meisten Student*innen im ganzen deutschsprachigen Raum. Sie stärker an die Kultur zu binden, wäre eine plausible Antwort auf den aktuellen Publikumsschwund.

Neugierig? Bald in Wien zu erleben

Mahlers Fünfte am 24. Oktober könnte die Krönung der zwei OSM-Abende werden. Das Orchester spielte die Sinfonie schon im Sommer in Korea und nahm sie anschließend auf. „Wir spielten für die Aufnahme erst das ganze Stück durch, das war überraschenderweise mein Lieblingserlebnis im ganzen Sommer“, erinnert sich Konzertmeister Wan. Solang die Aufnahme noch in der Produktion ist, bleibt die einzige Möglichkeit, Payares scheinbar so beglückende Deutung zu erleben, ins Konzerthaus zu gehen.

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