Stoffneurosen im Schoß

Über innere Konflikte, Rauschzustände beim Zeichnen und Tinder als Fundgrube für männliche Aktmodelle - Ein Besuch bei Anna Reschl.

Foto: Anna Reschl

Foto: Anna Reschl

Wer sich schon mal gefragt hat, wie man Neurosen- psychische „Störungen“ ohne körperliche Ursache, visuell darstellen kann, findet ja vielleicht bei Anna Reschls Werken eine von vielen Antwortmöglichkeiten. Durch dynamische Kompositionen von Draht, Leim, Farbe und Stoff verleiht sie dem Innenleben ein dreidimensionales Antlitz, das durch permanentes Übermalen Veränderungen unterzogen ist.

Dabei befreit die in Wien lebende Künstlerin Neurosen von ihrem negativen Stigma und macht sie stattdessen zu einem Statement für Individualität, das sie auf ironische Weise thematisiert.

 „Wir haben alle einen Schuss“, sagt Reschl lachend zu mir

Besonders in Zeiten wie diesen sollten der Austausch und die Ehrlichkeit über unsere psychische Gesundheit ein zentrales Thema sein - ohne Stigmatisierungen. Dass es dafür auch nonverbale Wege gibt, wussten Künstler*Innen schon lange.

Am Tag des Open-Studios hing die Neurose - ein zusammengeknotetes, insektenartiges Geschöpf, von der Decke und war von wild bemalten Wänden umgeben, in denen sich nicht nur die Neurose aufzulösen schien, sondern auch man selbst.

Der Künstlerin ist es ein zentrales Anliegen, dass die Werke mit ihrem Hintergrund - ob bemalte Wände oder die Straßen Wiens - in einen Dialog treten, sich in diesem auflösen und wiederfinden.

Die Neurosen gibt es in unterschiedlichen Materialien, so sind zum Beispiel Ihre Stoffneurosen, wie der Name schon sagt, aus mit Stoff gefülltem Schaumstoff. Sie integriert sie subtil als Requisiten in Filmszenen oder druckt sie in kräftigen Rosa-Tönen als Print auf Stofftaschen. Für ihre Fotoserie fuhr Reschl mit den Neurosen durch die Stadt und platzierte sie im öffentlichen Raum auf einem Sessel oder dem Schoß der Menschen. Die Reaktionen waren dabei sehr unterschiedlich. Manche nahmen sie humorvoll auf, ohne nach einem tieferen Sinn zu suchen, erzählt sie mir.

Man muss es länger kennen, um es zu verstehen. Dann braucht man keine Worte mehr

Nach den Stoffneurosen begann sie mit den neurosen metamorphosen, das heißt mit der permanenten Veränderung ihrer Arbeiten, in der das Vanitas-Motiv immer mitschwingt. Neurosen werden im Raum platziert und wiederholt mit Schichten an Farbe bemalt, überschüttet, umgewandelt, aufgelöst. Daraus ergibt sich ein ewiger Prozess der Veränderung und Vergänglichkeit, der in ihrem gesamten künstlerischen Œuvre eine zentrale Rolle einnehmen.

Foto: Anna Reschl

Foto: Anna Reschl

I denk net dran, dass meine Arbeiten jemals im Louvre für Jahrhunderte ausgestellt werden. Es hat einfach alles seine Vergänglichkeit und das ist ja keine Missachtung meiner eigenen Arbeiten, sondern es ist halt so, dass die Sachen sich weiterentwickeln und in den seltensten Fällen sag ich, ok, das ist fertig.

Sie hält die Prozesse mithilfe von Fotografien visuell fest, die auch beim Open-Studio in einem schwarzen Büchlein zu sehen waren. Wer hätte gedacht, dass sich unter einem mit Edding, Leim, Acryl- und Sprühfarbe kreierten Geschöpf, bloß ein liebliches, an die Kissenbezüge unserer Großeltern erinnerndes Blumenmuster verbirgt?

In ihrer Wohnung fielen mir vor allem die unzähligen Porträts auf. Doch wo findet man eigentlich so viele Menschen, die Akt stehen wollen? Neben dem Bekannten- und Freundeskreis wählt Reschl einen etwas unkonventionellen Weg: Tinder.

Hand vor gesicht /// Foto: Maja Vasic

Hand vor gesicht /// Foto: Maja Vasic

Ein männlicher Akt für jede nackte Frau in der Kunstgeschichte

Ihr neues Projekt My Tinder Nudes wurde von den Arbeiten eines engen Künstlerfreundes angeregt, der lauter weibliche Aktzeichnungen angefertigt hat - ein Motiv, das anscheinend nie seinen Reiz in der Kunst verliert. Sie hat genug von der binären Rollenaufteilung in männliche Künstler und weibliche Musen und beschließt daher für ihr neues Projekt nur noch nackte Männer zu malen - für jede nackte Frau in der Kunstgeschichte.

Ein etwas größenwahnsinniges Projekt, wie sie selbst feststellt. Die Zeichen-Session wird meistens zu einer Art Therapiestunde, in der ihr die Herren von ihrem (Liebes-) Leben und Alltagsproblemen erzählen. Durch die Gespräche soll die Stimmung aufgelockert und auch die eigene Nervosität der Künstlerin gesenkt werden. Die Gespräche sind ein wichtiger Bestandteil des Projekts, da es Reschl nicht um das Abliefern eines Naturstudiums geht, sondern um den ganzen Prozess.

Also ich seh das Modell zum Beispiel auch nicht in dem Sinn, dass da jetzt ein nackter Mann oder eine nackte Frau oder was auch immer da ist. Das ist so fokussiert und konzentriert, dass ich nach einer Stunde extremst erschöpft bin. Aber mit so einem zufriedenen Erschöpftsein.

Die Künstlerin beschreibt den Arbeitsprozess wie einen Rauschzustand, in dem sie sich verliert und alles andere für einen Moment vergisst. Es gibt dann für sie kein Hier und Jetzt, kein Gestern und Morgen, wie sie selbst sagt.

Sondern das ist wie eine Droge. Man verliert sich. I verlier mi drin.

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