The theme song of our times

Eine Erstaufführung von Alexey Retinsky als Soundtrack unserer Zeit, ein Mahler, wie ein Drogentrip und ein Statement von Patricia Kopatchinskaja – Teodor Currentzis mit MusicAeterna im Konzerthaus.

Alexey Retinsky /// Markus Aubrecht (c)

Alexey Retinsky /// Markus Aubrecht (c)

Ich muss zugeben, ich war lange kein großer Fan von neuer Musik. Wenn sie aber derart intensiv und so tief berührend ist, wie Anapher von Alexey Retinsky, dann her damit. Das Stück packte mich im Magen mit einer Kraft, der man nicht widerstehen konnte. Zuerst strahlten die wellenden Flöten über unheimlichen Liegetönen der Streicher*innen. Kojotengeheul stelle ich mir ähnlich knochenmarkerfrierend vor. Dann hörte ich Vogelrufe, wie im Urwald. Das MusicAeterna Orchestra und Currentzis spielten die psychedelisch tiefgehenden Klangmalereien Retinskys im ächzend vollen Konzerthaus mit höchster Konzentration.

Pandemie, Populismus, Klimakrise: Happy music nicht aktuell gerade…

Die Musik war nie nett oder fröhlich, auch nicht wirklich hoffnungsvoll. Beim Kochen in der Küche ist sie für Billie Joel keine Konkurrenz. Aber womöglich ist sie der perfekte Soundtrack für unsere Zeit: Es wütet eine globale Pandemie, die Einsamkeit, Tod und psychische Probleme verursacht, die Klimakrise hängt wie ein Damoklesschwert über uns, Autokratie, Terrorismus und Rassismus florieren. Da bietet sich irgendein fröhliches Menuett oder so nicht wirklich an, wenn man Neues erschaffen möchte.

Teodor Currentzis /// Markus Aubrecht (c)

Teodor Currentzis /// Markus Aubrecht (c)

Die ständig etwas unheimliche Spannung im Stück ließ nie nach, steigerte sich eher. Besonders spooky fand ich, als alle Streicher*innen gemeinsam auf dem Holz ihrer Instrumente strichen: hundert Arme, die im Takt schwangen. Kurz vor Schluss kam der Höhepunkt, als das ganze Orchester anfing, auf kleinen wassergefüllten Vogelpfeifen zu trällern. Diese kleinen Jahrmarktinstrumente mögen allein reizend klingen, so war das wie ein Alptraum. Mir fiel mein Chorleiter Heinz Ferlesch ein, wie er sich vor unserem Konzert sorgte, wie das Publikum wohl nach Mozarts Ave Verum in der Pause nonchalant Sektchen trinken würde. Verglichen mit dieser überirdischen Erfahrung waren seine mozärtlichen Sorgen zum Kaputtlachen...

Was Patricia Kopatchinskaja zum Stück meint

Die Stille nach dem Schluss hielt Currentzis besonders lang. Wie beeindruckt wir alle vom Stück waren, zeigte, dass die Stille auch dann noch lange hielt, als er seine Hände runter ließ. Erst dann war der Jubel groß, besonders für den anwesenden Komponisten. Merveilleuse! Meinten die Franzosen hinter mir, Stargeigerin Patricia Kopatchinskaja, die ich etwas weiter neben mir ein der Reihe entdeckte, schien ebenfalls sehr angetan. Ihr kleines Statement zum Stück: „Wie verschiedene Landschaften einer Fantasie.“

Wie sehr Teodor Currentzis Retinsky schätzt, zeigte, dass er Anapher vis-à-vis mit seinem Lieblingskomponisten Mahler programmierte. Dessen fünfte Sinfonie kam nach Retinsky zunächst ungewohnt klassisch, stellenweise gar liebevoll rüber. Unter Currentzis spielte das Orchester das liebliche zweite Thema nach dem schroffen ersten Einsatz besonders weich. Ja, Mahler streichelt einen auch mal. Immer wagten sie sich in ein hauchzartes Piano, nicht aber ohne davor die schroffen Stellen voll ausgekostet zu haben. Die Extremen, sie bekommen bei Currentzis die Bedeutung, die man von ihm mittlerweile erwartet. Ist das musikalischer Extremismus? Eigentlich nicht, eher äußerst konsequent. Wenn Fortissimo oder Crescendo in der Partitur steht, dann setzt das Currentzis nach seinem besten Können um.

Und wenn er etwas umsetzen möchte, dann folgen ihm seine Musiker*innen blind. Wie sie ihm nach Perm und St. Petersburg gefolgt sind. Nach dem letzten, wirklich beeindruckenden Konzert mit dem SWR-Orchester schaffte es der Wundergrieche mit seinem Orchester wirklich, noch eine Schippe draufzusetzen. Mitten zwischen den stehenden (!), schwarz gekleideten Musiker*innen kam Currentzis rüber, wie ein organischer Teil des Orchesters. So stark habe ich das noch nie bei einer Dirigent*in erlebt, der Eindruck wurde durch das Hörerlebnis verstärkt: Dieser Mahler war aus einem Guss, ein gigantischer Drogentrip.

Im Mahler-Ozean ertrinken

Irgendwo im zweiten Satz gab der Kritiker-Dávid den Kampf auf und ließ sich notizenlos mitreißen. Diese elementare Musik spielte mit mir, wie der stürmische Ozean mit einem Stückchen Holz. Sie presste mich in meinen Sitz, riss meine Augen weit auf. Erst nach dem Satz merkte ich, dass ich in meiner Faust die ganze Zeit verkrampft meinen Stift umklammerte, wie der Ertrinkende das besagte Holzstückchen.

Und dann: das Adagietto. Mahler soll die Noten zu diesem Satz Alma, seiner späteren Frau als Liebeserklärung geschickt haben. Sie verstand gleich und lud ihn zu sich ein. Ich floss mit geschlossenen Augen daher, während diese ätherische Musik spielte. Currentzis übertrieb mit den Schwellern nie, führte das Orchester mit langem Atem. Danach hätte ich am liebsten unter einer flauschigen Decke verkrochen und einen Winterschlaf gemacht. Doch das wilde Schlussrondo, in dem das Adagiettothema nur noch als hastige Erinnerung wieder auftauchte, erinnerte daran, dass das Leben unaufhaltbar weitergeht.

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