Aufzeichnungen aus dem Probenloch 1
In unregelmäßigen Abständen empfängt Bohema Signale aus dem Probenalltag unserer Autorin Alisa. Über Beobachtungen und Erkenntnisse, Hasstiraden und Liebeserklärungen, Anekdoten und Probenpannen. Die erste Aufzeichnung greift in den Pathostopf und fragt: Kann Theater die Welt verändern?
Was machen wir eigentlich am Theater? Nach nur zwei Wochen Proben frage ich mich das bereits. Versteht mich nicht falsch, ich liebe es. Es gibt wenige Orte, an denen ich mich so gut und richtig fühle wie auf einer Probebühne oder im Zuschauerraum.
Aber.
Es ist Pandemie, wir proben.
Es ist Krieg, wir proben.
Es ist Inflation, wir proben.
Es ist Klimakrise, wir proben.
Wir sind nicht die Einzigen, die weitermachen wie bisher - nur ist es leichter, der Kunst die Untätigkeit vorzuwerfen, als die Übeltäter zur Rede zu stellen.
Wir sitzen am Tisch und reden über unser Stück. Es geht um Enttäuschungen, um geliebte Helden und zerstörte Illusionen. Um Momente, in denen aus (Ent)-Täuschung Erkenntnis und aus Erkenntnis neuer Tatendrang wird. Es geht um das Vibrieren, das Zittern, das Flirren, zwischen Nicht-Wissen und Mehr-Wissen, zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Um das Wahrnehmen, Begreifen, Weitermachen. Ein universelles Gefühl, vielleicht ein momentaner Zustand der Gesellschaft?
Zum ersten Mal habe ich verstanden, was Leute meinen, die sagen, Theater kann die Welt verändern.
Was hier Veränderung heißt, ist im Theater bloß nicht das, was wir uns eigentlich von Politik und Wirtschaft wünschen. Mir ist die (System-)Irrelevanz von Theater bewusst. Das Wissen darum tut ja auch weh. Aber mit unserem Glauben an diese Kunstform können wir die Enttäuschung, den Frust und die Langeweile darüber nutzen, um von neuem zu erklären, von neuem zu begeistern. Wenn Theater thematisch wirklich mal das Zeitgefühl trifft, hat es eine Chance. Und wenn die Form auch noch stimmt, glaube ich auch wieder vorsichtig daran.
Theater wird zu einem sinnlich erfahrbaren Ort, wenn Bühnendekoration und Kostüme, Licht und Musik, schauspielerische Fertigkeiten und die Handlung zusammenkommen und zu einer Geschichte verschmelzen. Zu einer Geschichte, die sich wortwörtlich direkt vor unseren Augen, nur einige Meter entfernt, entfaltet, und man plötzlich begreift, dass da vorne eine Welt erschaffen wird. Eine Welt, die kunstvoll überspitzt der eigenen ähnelt. Dass man mittendrin und dazwischen steckt. Vielleicht können wir dabei helfen und es uns zur Aufgabe machen, dieses Gefühl im Zuschauenden zu erzeugen, indem wir es in eine Geschichte verpacken, die Sinn schafft. Zeigen, dass wir verstehen, was passiert.
Die Wahrheit lässt sich in Geschichten besser ertragen als in Fakten.
Was ich mit all dem versuchen will, was ich immer wieder versuchen will: Menschen für Theater zu begeistern. Immer wieder aufs Neue. Auch nach der 10. schrecklichen Inszenierung. Gebt uns noch eine Chance. Und dann noch eine. Und dann noch eine. Ja, es wird manchmal scheiße. Aber dann wird es manchmal nicht scheiße.
Ich werde noch oft ein großes Plädoyer für das Theater halten. Heißt ja nicht, dass es nicht reformwürdig ist. Ich bin genauso genervt und gelangweilt und dann enttäuscht. Vom Theater, vom Leben, von der Welt.
Vielleicht klappt es ja kurz an den Abenden, an denen wir das Stück zeigen. Ich bin vorsichtig zuversichtlich.
Muss ich sein.
Wir werden sehen.
Ich muss jetzt aber erstmal wieder zur Probe…