Mit 85 km/h übers Wasser
Yuri Ancaranis Film Atlantide zeigt, wieso wunderschöne Aufnahmen allein noch lange nicht für einen guten Film reichen.
22 Oktober /// 23 Oktober
Der Einbruch des Herbstes mit seinem kalten und grauen Wetter und seiner früh einsetzenden Dunkelheit kann durchaus bei manchen Menschen zu einer Sehnsucht nach dem Sommer führen. Es gibt manche Filme, die durch ihr Setting und ihre Handlung dieser Sehnsucht ein kleines bisschen Abhilfe schaffen können. Yuri Ancaranis Film Atlantide, der auf den Internationalen Filmfestspielen in Venedig 2021 seine Weltpremiere feierte, eignet sich allerdings nur suboptimal dafür.
Need for Speed
Die Handlung des ca. 100-minütigen Films spannt sich um den Jugendlichen Daniele (Daniele Barison) und sein Motorboot. Denn abseits vom touristischen Stadtzentrum Venedigs, auf den kleinen Inseln rund um die Altstadt, verbirgt sich eine kleine geheime Welt. Eine Welt, in der die einheimische Jugend in der Freizeit an ihren Motorbooten herumschraubt, frei nach dem Motto: schneller, schneller, schneller. Die dazugehörigen Rennen durch die Lagune liefern sie sich mal untereinander und mal mit der örtlichen Polizei.
Yuri Ancarani drehte den Film mit der Absicht, die Lebensrealitäten eben jener Jugendlichen zu beleuchten, die ihr Dasein auf den Inseln rund um Venedig fristen. So hat Atlantide weniger den Anschein eines Spielfilms, sondern wirkt mehr wie eine Dokumentation, die den Protagonisten dabei begleitet, wie er versucht, seinen Traum vom schnellsten Motorboot der ganzen Lagune zu erfüllen. Bei den verschiedenen Charakteren handelt es sich um reale Menschen, die sich selbst verkörpern, deren Dialoge aus ihrem Leben entnommen wurden und die Ancarani über eine Dauer von vier Jahren begleitete. Die Handlung des Films stand nicht im Vorhinein fest, sondern wurde innerhalb der vier Jahre entwickelt.
Dov’è il Film?
Die grundsätzliche Idee Ancaranis, die Lebensumstände Jugendlicher zu zeigen, denen sonst nicht recht viel Beachtung geschenkt wird, hätte sowohl zu einem wunderbaren Spielfilm als auch zu einer spannenden Dokumentation führen können. Nur leider wirkt es so, als hätte man sich nicht zwischen den beiden Filmgattungen entscheiden können, wodurch das Potenzial des Films nicht ganz ausgeschöpft wird. Die Handlung ist die meiste Zeit des Films irrelevant und die spärlichen Dialoge zwischen den Figuren tragen kaum dazu bei, sich mit ihnen zu identifizieren bzw. sich überhaupt für sie zu interessieren. Fast kommt es einem so vor, als hätte man sich darauf verlassen, dass die Bilder die Geschichte erzählen, allerdings bringen es diese kaum zu Stande, den Mund aufzumachen. Die durchaus ästhetischen Bilder nehmen die Zuschauer*innen förmlich mit auf eine Reise nach Venedig und machen die sommerliche Hitze und salzige Meerluft fast spür- und riechbar. Umso mehr ist es schade, dass diese Bilder ihre Kraft verlieren, wenn man als Zuschauer*in immer wieder einem Motorboot dabei zusehen darf, wie es mit lautem Technogedröhn über die Wasseroberfläche zischt oder zwei Buben dabei zuschauen muss, wie sie unter der Abdeckung eines Motorboots sitzend Kinder Pinguine verschlingen, während sie den im Hintergrund laufenden Rapsong mitsingen.
Mehr Musikvideo als Film
Auch wenn es Atlantide dank seiner teils sehr schönen Bilder schafft, die Zuschauer*innen mit auf eine Reise in die Lagune von Venedig zu nehmen, versagt der Film, diese Reise mit Inhalt zu füllen. Die einzelnen Einstellungen und Aufnahmen lassen sich nicht so ganz zu einer sinnvollen Handlung zusammenfügen und bei manchen Szenen im Film hat man eher das Gefühl, man schaue sich gerade ein überlanges Musikvideo an. Auch wenn sich über Geschmäcker streiten lässt und ich mir sicher bin, dass es genug Leute gibt, die mit diesem Film etwas anfangen können, muss ich wohl anmerken, dass man es sich meiner Meinung nach zweimal überlegen sollte, ob man sein Geld in eine Kinokarte für diesen Film investiert.