Castorfs Faust spielt in Paris oder BUVEZ COCA COLA!

Ein geiler Abend im Haus am Ring - Frank Castorfs Debüt an der Wiener Staatsoper, Jubel, Buhrufe und das erste Mal Oper seit über einem halben Jahr.

Juan Diego Flórez und Nicole Car (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Juan Diego Flórez und Nicole Car (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Die Wiener Staatsoper hat ihre Pforten nach fast siebenmonatiger Schließung wieder fürs Publikum geöffnet. Welch heiß ersehnter Moment! Die Stimmung im Haus war sehr gut. Man konnte den Menschen ansehen, dass sie es so richtig genossen, wieder in der Oper sein zu können. Vor der Vorstellung trat Direktor Bogdan Roščić vor den Vorhang, winkte dem Souffleurkasten und begrüßte das Publikum, das ihn mit demonstrativ zustimmendem Applaus empfing. Sichtlich voller Freude sprach er von einem fast historischen Tag und wünschte dem Publikum einen Abend, den man nicht so schnell vergisst. Kurz vor Beginn schrie eine Dame „Toi, Toi, Toi!“ in den Saal, auch für sie wurde geklatscht.

Charles Gounod hat wunderschöne Musik zu Goethes Faust komponiert. Eine Musik, bei der man vor herrlichem Schmelz selber auch manchmal fast zerschmelzen möchte. Doch hält sich das Libretto der Oper nur schemenhaft an den epochalen Text von Goethe, weshalb die Oper auch lange Zeit Margarethe genannt wurde. Eine Textvariante, die für den Berliner Regisseur Frank Castorf wohl eine abwechslungsreiche Alternative zum Original des großen Meisters darstellte, die er sogleich nutzte, um nicht auf die deutsche, sondern auf die französische, beziehungsweise Pariser Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einzugehen.

Mit Zahnpastawerbung gegen die Schnulzenüberdosis

Es ist Castorfs Arbeitsweise, sich mit den politischen und philosophischen Ereignissen der Entstehungszeit des jeweiligen Werkes auseinanderzusetzen und sie anschließend collagenhaft in Szenen zu verwandeln. Im Falle von Faust wird der Algerienkrieg thematisiert, ebenso wie die erste Weltausstellung 1855, der Opiumkrieg von China gegen England und Frankreich, Charles de Gaulles Politik, die Terrorgruppe OAS sowie das Attentat auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Selbst für einen Castorf-Fan war es beinahe überraschend, wie stimmig seine Deutung funktionierte. Erstaunlich textgetreu auf eine Art, absolut spannungsgeladen und unendlich lustig. Er nimmt sich aber auch die Freiheit, sich über die musikalisch allzu süßen Momente lustig zu machen, indem er sie mit Zahnpasta- und Waschmittelwerbungen aus den 1950er-Jahren konterkariert.

Der Teufel in Action (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Der Teufel in Action (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Ein weiteres Markenzeichen von ihm: Live-Video, live geschnitten. Dieses Medium nutzt er fast durchgängig, und zwar mit absoluter Präzision und einem Ideenreichtum, der einen schier überwältigt. Sein kongenialer Bühnenbildner Aleksandar Denic entwarf ihm ein wahres Filmset aus Versatzstücken der französischen Hauptstadt. Notre-Dame führt in einen Voodo-Shop von Méphisto, das CAFÉ OR NOIR gerade in die Metro-Station Stalingrad. Adriana Braga Peretzki schuf wunderschön anzusehende Kostüme, die sich an der historischen Collage beteiligten. Spannend auch Castorfs Sicht auf Gretchen. Bei ihm kein keusches, braves Blümlein, sondern eine im Leben stehende Frau, deren Schicksal dadurch nicht wenig tragisch verläuft.

Gewohnt hochkarätige Besetzung

Dirigent Bertrand de Billy sorgte für sehr feinfühlige musikalische Momente. Die Wiener Philharmoniker sowie der Chor der Wiener Staatsoper waren in Bestform. Juan Diego Flórez sang den Faust sehr lyrisch, wirklich schön. Marguerite wurde von Nicole Car sehr überzeugend und einnehmend gesungen und gespielt. Gleiches gilt für Etienne Dupuis als Valentin. Die ausgezeichnete Monika Bohinec durfte als Marthe stark an der Opiumpfeiffe rauchen und rezitierte auf packende Art deutsche und französische Revolutions-Texte, die Castorf einbaute. Martin Häßler als Wagner hinterließ einen sehr guten Eindruck, ebenso Michèle Losier als Siébel.

Nicole Car als Marguerite, Juan Diego Flórez als Faust und im Hintergrund das Highlight des Abends, Adam Palka als Teufel. (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Nicole Car als Marguerite, Juan Diego Flórez als Faust und im Hintergrund das Highlight des Abends, Adam Palka als Teufel. (c) Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Highlight des Abends war aber der Teufel. Adam Palka hat die perfekte Stimme für die Rolle des Méphistophélès. Er punktete nicht nur mit seinem dämonisch-dunkel gefärbten Timbre, sondern auch durch schauspielerische Raffinesse und eine absolut packende Mimik. Jubel für alle Beteiligten, laute Bravos und Buhs für Frank Castorf und sein Team. Ich würde sagen, die Oper ist lebendig, ist wieder da und was noch viel wichtiger ist: das Publikum auch.

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