Meisterkurs in Sehnsuchtsstimulierung

Warum nicht Víkingur Ólafsson beim Eröffnungskonzert spielte und warum keine U27 Generalproben eingeführt werden - Interview mit dem Intendanten des Konzerthauses mit exklusivem Ausblick auf die nächste Saison und persönlichen Empfehlungen von Matthias Naske.

Ich bin ziemlich auf Nerven, als mich am Künstlereingang des Wiener Konzerthauses Pressereferentin Charlotte Hartwig abholt. Ihre nette, persönliche Art hilft. Sie staunt selbst ein wenig, dass ich tatsächlich der erste Journalist bin, der das druckfrische Programm für die nächste Saison erhält. Berichten daraus darf ich zwar noch nicht, trotzdem eine große Ehre. Nach einer kleinen Runde durch das gähnend leere Haus holen wir Alexandra ab und gehen in die Direktion. Matthias Naske ist (im Gegensatz zu mir) ganz locker, während Alexandra ihre Kamera aufbaut. Soundcheck, Kameracheck und los geht’s mit meiner lang ausgetüftelten ersten Frage.

Bohema: Herr Naske, Sie machen den Eindruck eines gemäßigten, ruhigen Mannes (er lacht). Als verkündet wurde, dass am 19. Mai geöffnet wird, haben Sie Freudensprünge gemacht?

Matthias Naske: Na ja, Freudensprünge... Da waren sechs lange Monate davor, in denen ja nicht klar war, wie lange der Lockdown tatsächlich aufrechterhalten wird. Wir waren natürlich alle erleichtert, als es eine verbindliche politische Zusage über den Wiederaufnahmezeitpunkt gab. Interessanterweise hatten wir, die Kulturszene, bei Entscheidungsfindung durchaus das Gefühl, gehört zu werden. Die Politik hat über all die Monate nicht in Frage gestellt, dass der Besuch einer kulturellen Spielstätte mit den Lüftungsanlagen, die pro Stunde vielfach die gesamte Luft austauschen, mit Distanz, mit den Masken und mit der Testverpflichtung sicher ist. Und trotzdem haben sie gesagt, nein, wir wollen das nicht.

Die Kulturszene war in Geiselhaft einer Idee

Dann fragt man sich, warum. Man könnte sagen, das sei eine Geringschätzung des kulturellen Erbes. Aber das war es nicht. Die politischen Entscheidungsträger meinten, dass das Signal, wenn sich 500 Menschen unter sicheren Bedingungen treffen dürften, so stark wäre, dass sie und auch andere das Gefühl gehabt hätten, dass fünf Leute, die sich am Wochenende im privaten Rahmen treffen ja auch kein Problem sein sollten. In gewisser Weise war die ganze kulturelle Szene dieses Landes also in Geiselhaft einer Idee, Menschen möglichst nicht versammeln zu lassen. Und das wider besseres wissenschaftlich approbiertes Wissen. Das war schwierig für uns: Das war aber notwendig als Beitrag für die Solidarität. Mit dem Luftsprung, da ist zu viel davor passiert, so ist es dann auch nicht. Aber in dem Augenblick waren wir alle doch sehr erleichtert.

B: Nun ist der große Tag also gerade der 19., ein Mittwoch. Etwas random.

N: Wir hatten einen Liederabend mit Jonas Kaufmann und seinem Begleiter Helmut Deutsch disponiert, für den 18. Mai. Das müssen Sie sich vergegenwärtigen, Jonas Kaufmann kriegt man alle heiligen Zeiten. Das ist einfach absurd, so ein Superstar, genau einen Tag zu früh... Eine wunderbare Kollegin von mir hat dann mit viel Geschick, etwas Glück und seinem Entgegenkommen arrangieren können, dass er am 20. Mai seinen Liederabend in kompakter Form auf dem Weg nach Salzburg nachholt.

B. Bis zur Sommerpause geben Sie nun ordentlich Gummi. Auch in Sälen, die sonst nicht ganz so viel benutzt werden, wie dem Schubert-Saal.

N: Es sind immerhin fast 200 Veranstaltungen für den Rest dieser Saison. Alles wird genutzt, was geht. Alle schielen immer auf den großen Saal, aber viele wunderbare Produktionen finden auch in den kleinen Sälen statt. Da haben wir das große Glück, dass der Mozart-Saal mit Sicherheit der beste Kammermusiksaal dieser Stadt ist. Wenn man da Kammermusik oder Liederabende hört, dann will man gar nicht woanders sein, dann will man auch nicht mehr Gold.

B: Wirtschaftlich ist das wahrscheinlich nicht gerade eine einfache Zeit.

N: Der Druck ist sehr groß. Nur ein Beispiel: Allein der Wert der in dieser Saison bis Anfang Mai ausgegebenen Tickets beträgt 4 066 000 €. So viel Geld wurde uns anvertraut. Und das ist natürlich nicht Geld, das die Konzerthausgesellschaft bekommt, sondern Geld, das wir weitergeben an Musiker*innen, Ensembles usw.

B: Können Sie überhaupt Gewinn machen mit nur der Hälfte der möglichen Plätze?

N: Das geht nur dann, wenn die Künstler*innen bereit sind, zweimal zu spielen. Manche Konzerte werden sogar vierfach, an zwei Tagen stattfinden.

B: Beim Eröffnungskonzert am 19. hätte eigentlich Víkingur Ólafsson spielen müssen, er wurde aber mit Andreas Haefliger ersetzt. Warum spielte nicht Ólafsson?

N: Weil er ein Kind bekommt. Also nicht er, seine Frau. Wir haben dann gedacht, so what, eh klar. Da ist des Mannes Platz an der Seite seiner Frau. Für mich ist es natürlich besonders schön, dass die Camerata Salzburg diesen Abend eröffnen wird, weil ich vor vielen, vielen Jahren bei der Camerata gearbeitet habe, als Sándor Végh noch gelebt und das Ensemble künstlerisch geprägt hat. Aber das ist ja Zufall, das war schon so disponiert. Wenn sich die Stadt entschlossen hätte, was mir besser gefallen hätte, schon am 15. zu öffnen, dann wär’s ein anderes Programm gewesen.

B: Lustigerweise haben Sie auch beim eröffnenden Orchester im Musikverein, dem Mahler Jugendorchester, gearbeitet... Und warum haben sie genau Haefliger ausgewählt?

N: Wir haben das Glück, dass unser künstlerischer Betriebsdirektor Rico Gulda, übrigens der Sohn von Friedrich Gulda, selbst Pianist war. Er ist natürlich ein besonderer Fachmann. Wir glauben, dass Andreas Haefliger zu diesem Zeitpunkt die beste Wahl ist. Wir haben ja parallel im Mozart-Saal drei junge aufstrebende Solist*innen, die ein Klaviertrio bilden, darauf freue ich mich auch sehr. Ich werde an dem Abend zumindest in zwei Konzerte gehen.

B: Sie Glücklicher... Am 21. Mai hätte Ian McEwan ein Bach-Konzert von Angela Hewitt mit einer Lesung bereichern sollen. Das Konzert wurde schon zweimal verschoben, jetzt abgesagt. Wird es vielleicht irgendwann doch stattfinden?

N: Bei Ian McEwan gab’s eine medizinische Indikation. Aber er ist diesem Haus, dem Publikum sehr nahe, er wird kommen, am 8. Mai 2022. Wahrscheinlich sogar mit dem ursprünglich angekündigten Programm. In diesen Zeiten braucht man leider Geduld. Das ist eigentlich auch eher ungewöhnlich, dass in einem Konzerthaus auch Lesungen gegeben werden, auch wenn sie mit Musik begleitet werden. Aber das ist eine Tradition, die bis Karl Kraus zurückgeht.

B: Wow.

N: Ja, was hier überhaupt schon alles passiert ist, das ist wirklich lustig. Kraus hat hier sicher an 170 Abenden vorgelesen.

B: Die Verlängerung der Saison bis Juli ist eigentlich historisch, oder?

N: Ja, aber Dinosaurier, die glauben die Welt bleibe immer dieselbe, werden untergehen. Die, die sich anpassen, werden überleben. Man könnte auch zusperren und untergehen (lacht).

B: Das Programm im Juli ist noch etwas weniger dicht. Kommt da noch was dazu?

N: Es kann immer noch was dazukommen, das ist so jetzt. So flexibel, wie der Markt heute ist, war’s noch nie, noch nie (mit Nachdruck).

B: Kommen wir zur nächsten Saison, Sie blättern schon im Abonnementbuch. Rechnen Sie damit, dass in der nächsten Saison vor vollem Haus gespielt wird?

N: Ja, natürlich. Mit den Impfungen und den Tests wird das schon möglich sein. Sonst müssen wir wieder adaptieren. Intern habe ich diese Situation vor kurzem verglichen mit der Situation, die ich am Anfang meiner Tätigkeit für das Wiener Konzerthaus vorgefunden habe. Es tut mir leid, wenn ich mich da in den Mittelpunkt stelle (lacht). Als ich 2012 bestellt wurde, hat der Trägerverein des Konzerthauses 6,4 Mio. Schulden gehabt und ein negatives Eigenkapital in der Bilanz. Das heißt, dass das Gesamtvermögen kleiner ist als die Schulden. Da muss man als kaufmännisch verantwortlicher Intendant mit persönlicher Haftung sehr aufpassen.

Wenn man nicht Vollgas gibt, verarmt das Programm mittelfristig

In dieser Konstellation gibt’s nur zwei Möglichkeiten. Man gibt 100% Gas und versucht, möglichst viele Menschen zu gewinnen, zu wachsen. Oder man reduziert Fixkosten, vor allem Personalkosten. Wir haben uns damals für die erste Variante entschieden. Das war nicht ungefährlich, aber der andere Weg hätte mittelfristig zu einer Verarmung des Programms geführt. Jetzt sind wir in einer ähnlichen Situation. Niemand weiß, wie die nächste Saison ablaufen wird. Die jetzige könnten wir sogar ohne relevanten Verlust abschließen, wenn die letzten Wochen entsprechend ausfallen, knock on wood (klopft auf seinen Kopf). Was die Zukunft betrifft, gibt es wieder diese zwei Alternativen. Reduzieren oder Vollgas. Wir haben alles abgewogen und glauben, dass dieses Programm Sinn macht und sehr viel Freude bereiten wird.

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B: Das Programm wird ja erst am 25. Mai veröffentlicht, können Sie uns schon dies und das verraten?

N: Da ist zum Beispiel einer, über den ich gerne spreche, der Teodor Currentzis.

Alexandra: (Flippt leise hinter der Kamera aus, Naske staunt.)

B: Sie ist aus Perm...

N: Wirklich?

A: Yeah, he is my family’s favourite.

N: Freut mich sehr, ich war schon öfter in Perm. Teodor ist ein ganz, ganz, ganz spezieller (überlegt) Musiker. Ein wirklich großer Musiker. Was er in Perm in vielen Jahren mit MusicAeterna aufgebaut hat und jetzt in St. Petersburg weiterführt, ist wirklich außergewöhnlich. Der erste, der das im großen Stil professionell erkannt hat, war übrigens Staatsoperndirektor Bogdan Roščić, der über viele Jahre Sony Classic geleitet hat und unglaublich wertvolle Aufnahmen mit Teodor ermöglicht hat. Mit all dem, was dazugehört, wenn man mit Teodor arbeitet. Und das sind sehr gute Sachen und sehr schwierige Sachen.

B: Er kommt ja auch schon vor dem Sommer.

N: Nein, das geht sich leider doch nicht aus.

B: Das steht noch online... Woran liegt‘s?

N: Das ist eine komplizierte Frage, letztlich lag‘s am Orchester. Wir konnten leider kein einziges seiner Konzerte in der laufenden Saison verwirklichen. Aber er wird diese fünf Konzerte in der nächsten Saison nachholen, mit einer leicht veränderten Balance zwischen seinen zwei Orchestern.

B: Wird es mehr SWR?

N: Nein, es wird sogar mehr MusicAeterna.

B: Das ist ja vielleicht sogar besser...

N: Wenn Sie das so sagen, dann wird das so sein (lacht). Das sind jedenfalls insgesamt fünf Konzerte und ganz, ganz tolle Programme. Teodor wird 2022, zwei Tage vor seinem 50. Geburtstag, hier ein Geburtstagskonzert mit der zweiten Sinfonie von Gustav Mahler dirigieren (22. 2.). Das wird nur in Wien und St. Petersburg stattfinden. Er liebt diese Stadt sehr, dieses Publikum. Ich bin ihm auch über eine ehrenamtliche Funktion verbunden, ich bin in seinem Musical Advisory Board. Er hat so ein internationales Board gebildet, ich bin einer von Einigen, die ihm einfach helfen, die notwendigen Strukturen zu bauen. Er war ja viele Jahre in Perm unter dem sicheren Dach eines Theaters. Und dann hat er sich entschieden, in die Unabhängigkeit nach St. Petersburg zu gehen. Ein gar nicht so risikoloses Unterfangen. Ich würde Ihnen die Seite von MusicAeterna sehr herzlich empfehlen. Sie ist ein ganz interessantes kreatives Instrument für Teodor, wo er Filme positioniert, wo er Lectures veröffentlicht über Renaissance-Architektur und sie dann vergleicht mit Musik. Ein Quell von Stimulationen, hochinteressant.

B: Was machen Sie eigentlich genau in diesem Board?

N: Ich helfe ihm dabei, die notwendigen Strukturen zu bauen die ermöglichen, dass seine Kreativität in einem professionellen Rahmen Bedingungen findet, die eine gewisse Stabilität sicherstellen. Ein Genie allein ist zu wenig.

B: Und das sind verschiedenste Leute, die ihm helfen. Schön für ihn...

N: Ja, aus verschiedensten Ländern. Es gibt auch juristische Instrumente, die zum Teil Fundraising für ihn machen. Das ist aber auch nichts Untypisches, das hat immer schon so stattgefunden.

B: Ist das eigentlich geheim? Oder kann man das googeln, wer dabei ist? So viele Dirigent*innen haben das aber glaub‘ ich nicht, so ein Board...

N: Nein, nein, ist nicht geheim. Ich weiß nicht, ob man das googeln kann, wir hatten jedenfalls erst heute Morgen ein virtuelles Treffen. Ich habe ganz am Anfang meiner Karriere ab ‘87 mal für den Claudio Abbado arbeiten können, als er das Gustav Mahler Jugendorchester gegründet hatte. Abgesehen davon, dass das sowieso irrsinnig aufregend, wertvoll und wunderbar war, konnte ich beobachten, auf wen Claudio in diesen Jahren gezählt hat. Das waren damals zum Beispiel Hans Landesmann und Thomas Angyan. Ich glaube das machen sie alle. Veranstalten ist im Grunde nichts anderes, als die richtigen Beziehungen leben. Es gibt gute und schwierige Zeiten (lacht). Man kriegt nichts geschenkt in diesem Geschäft. Wichtig ist, dass Vertrauen die Basis aller Beziehungen ist.

B: Wenn Sie programmieren, wählen Sie im Grunde aus, wer kommen soll. Haben Sie auch Einfluss, was gewisse Musiker*innen spielen werden?

N: Ja. Gewisse Pläne entwickelt man auch gemeinsam.

B: Das sind die Momente, die mich besonders interessieren. Setzt man sich nach dem Konzert hin und redet?

N: Ja, vieles passiert nach dem Konzert, das stimmt. Deswegen fangen die Tage im Wiener Konzerthaus früh an und enden spät. Ein großes Glück ist, dass wir ein eigenes Restaurant im Haus haben. Wir haben ein Extrazimmer, wo man sehr gut sprechen kann. Ein Luxusdilemma in diesem Job ist, dass man nicht in alle Konzerte gehen kann, weil wir so viel parallel machen.

B: So geht’s uns leider auch...

N: Und ich wechsle nicht mehr Saal. Ich habe das früher gemacht, aber dann kriegt man gar nichts mit. So wie ein Schauintendant, der wie der Schaueremit in den englischen Renaissance-Gärten irgendwo würdevoll auftaucht (lacht). Ich möchte spüren, ob das Konzert funktioniert oder nicht, wie das Publikum reagiert. Ich kann Ihnen ganz ehrlich sagen, dass man am Ende einer Saison ziemlich müde ist, wenn man das so intensiv lebt, aber es ist wunderbar.

B: Sie haben mal erzählt, Sie würden Ihre Verträge immer mit möglichst nicht zu langen Laufzeiten ausverhandeln, um flexibel zu bleiben. Wie lange sind Sie momentan an Wien gebunden?

N: Bis Mitte ’23.

B: Sind Sie schon in Verhandlung für eine Verlängerung?

N: Noch nicht, ich hatte andere Sorgen. Man muss das Gefühl haben, dass man noch was bewegen will, ich bin auch dafür, dass junge Menschen ihre Chancen bekommen. Ich versuche eh, die Hierarchie so flach zu halten, wie das nur geht. Ich bin ja schon ein alter Fuchs, aber ich glaube, dass ich noch einen Vertrag machen werde. Aber ich habe mich noch nicht entschlossen dazu. Ich weiß auch von Kollegen, die dann zu lange geblieben sind. Aber es macht mir total Spaß, für dieses Haus zu arbeiten.

Ein geheimes Projekt, das nächstes Jahr vorgestellt wird

Ich kann Ihnen sagen, gemeinsam mit meinem Team arbeiten wir daran, Impulse zu setzen, die weit über dieses Haus hinausgehen. Ich glaube daran, dass unendlich viel gesellschaftspolitisch relevante Kraft in der Musik liegt. Wir arbeiten gemeinsam mit einem anderen Verein an einem Projekt mit einer mobilen Bühne, mit verschiedenen Künstler*innen und einer ganz starken Einbindung von lokalen Kulturschaffenden. Das wird erst nächstes Jahr, vielleicht schon im Herbst, vorgestellt. Wir arbeiten intensiv dran, das macht mir natürlich auch Spaß. Aber man muss aufpassen, dass man nicht zu lange auf den Sesseln sitzt...

B: Bohema vertritt die jungen Menschen. Es sind jetzt finanziell schwierige Zeiten, gibt es die Gefahr, dass da etwas gekürzt wird vom Angebot für Student*innen?

N: Nein, im Gegenteil. Ich segmentiere nur nicht so gern über das Alter. Ich bin sensitiv, was die Preise betrifft, da muss man schauen, dass man nicht absegelt in die hohen Regionen der Exklusivität. Ansonsten ist es nicht relevant, wie alt oder jung die Leute sind, Hauptsache sie sind offen. Was wir sicher weitermachen werden, ist diese Serie für Menschen mit Behinderungen. Klangberührt ist schon eine schöne Sache. Das sind vier Abende im Schubert-Saal, wo in einer sehr spezifischen Konstellation für Menschen mit Mehrfachbehinderungen gearbeitet wird. In einem Raum, wo der behinderte Mensch und der nicht behinderte Mensch sich auf einer Ebene treffen. Das ist sehr wichtig, um der sozialen Wirklichkeit gerecht zu werden. Es sind so und so viel Prozent der Menschen behindert und sie haben ein uneingeschränktes Recht, exzellente musikalische Qualität zu erleben.

B: Die Initiative der Staatsoper, für U27 die Generalprobe zu öffnen, kam bombastisch an. Wäre sowas prinzipiell auch bei Ihnen möglich?

N: Da tun sich die szenischen Häuser leichter mit ihren fertigen Produktionen. Wir haben ein so vielschichtiges Programm, das ist viel kurzfristiger. Also am besten Jugendmitglied werden, dann kann man viel günstiger Tickets kaufen. Das kostet auch zweimal Nix, konkret 20€.

 

Matthias Naske ist eine sehr inspirierende Persönlichkeit. Es war für mich überhaupt keine Frage, das Gespräch (das immer spannender wurde) so lange zu führen, wie es nur ging. Nach anderthalb Stunden musste er in eine Vorstandssitzung, zu meinem Glück, könnte man sagen. Denn nach 8 Stunden Transkribieren war das Material ziemlich genau eine halbe Bachelorarbeit. Aus diesem riesigen Wust etwas Lesbares zusammenzukürzen war eine ordentliche Herausforderung. Da es mich bei vielen seiner Antworten so sehr geschmerzt hat, sie auszulassen, habe ich mich entschlossen, euch dies und das in einem Epilog hinten dranzusetzen, nach Themen sortiert. Falls Du also bis hierher drangeblieben bist, kann ich es dir herzlich empfehlen, kurz reinzuschauen.

Zuvor aber ein paar persönliche Konzertempfehlungen von Matthias Naske:

Zudem möchte Matthias Naske mit euch einen elektrisierenden Satz aus Teodor Currentzis’ Neuaufnahme von Beethovens 7. Symphonie teilen:

Die schon erwähnte Website von MusicAeterna, sowie ein Making-Of-Video von Mozarts Da-Ponte-Opern in Perm (zu Alexandras ganz großer Freude): 

Epilog

Warum Orchestermanagement wie Pferdezüchten ist

N: Im Gegensatz zu den viel teureren Opernhäuser kann man im Konzertbereich auch mit Ticketing Geld machen, vor allem, wenn man mit subventionierten Orchestern arbeitet. Und da bekenne ich gerne, dass die Wiener Symphoniker ein wichtiges Rückgrat unserer Programmierung sind. Durch die Finanzierung durch die Stadt können sie in den beiden Konzerthäusern zu Bedingungen spielen, die uns auch helfen. Das muss man sagen.

Wir haben einen guten Allianzvertrag mit den Symphonikern. Anders als in den Jahrzehnten davor, ist es bei uns nicht so, dass wir dem Orchester die Programme und Solisten vorschreiben. Das habe ich verändert, als ich 2013 zurückgekommen bin nach Wien. Davor war ich in Luxemburg auch für ein Orchester verantwortlich und habe gelernt, dass Veranstalter nicht alles mit dem Orchester im strategischen Denken teilen. Orchester müssen noch langfristiger denken. Orchestermanagement ist salopp gesagt, wie Pferdezüchten. Wenn ein Manager, ein Chefdirigent nicht so gut war, das merkt man nicht sofort. Das merkt man in 10, 15, 20 Jahren.

B: ...am Ruf des Orchesters...

N: Ja, und am inneren Ethos, den man nicht geschenkt bekommt. Keine Gruppe der Welt ist aus sich heraus so committed, dass sie ein optimales, langfristig abgesichertes künstlerisches Ergebnis erzielt. Und die Veranstalter denken sozusagen ein kleines bisschen näher zur veranstalterischen Wirklichkeit. Das sind Konzerttage und Verkäufe. Die können passend sein, aber auch vollkommen unpassend. Ein Beispiel: Der vorherige Chefdirigent der Symphoniker, Philippe Jordan, hat uns alle erstaunt als er hier angetreten ist und sagte, ich möchte die großen Passionen von Bach mit den Symphonikern machen. Wir alle, auch geprägt durch das, was Nikolaus Harnoncourt in diese Stadt gebracht hat, meinten, wozu?

B: Hm... Symphonischer Klang und Bach...

N: Genau. Aber er hat total recht gehabt! Dieses Arbeiten an dem feinen Klang, mit der Ästhetik, die dieses Orchester zu verwirklichen sucht, hat dem Orchester wahnsinnig gutgetan. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, muss ich sagen. Für mich wäre Bruckner, Brahms, Schostakowitsch naheliegender gewesen.

Über das Musikfest, Nonos Prometeo und die Wichtigkeit der Kooperation

B: Bis zur Sommerpause kommt unter anderem auch das BR-Orchester vorbei.

N: Ja, es ist ein fantastisches Orchester, wir haben es erst jetzt disponiert, als Ersatz sozusagen. Das ist ein sehr willkommener, wunderbarer Moment. Wir haben auch ein zusätzliches Konzert mit den Wiener Philharmonikern arrangieren können (25. 5.), da gibt es auch eine Geschichte dazu. Das Haus veranstaltet in alter Tradition jedes zweite Jahr ein Musikfest, immer alternierend mit dem Musikverein. Das ist ein Festival Mitte Mai bis Juni, wo jeweils eines der beiden Konzerthäuser nochmal so richtig Gas gibt und wo wir auch ein bisschen Bedacht aufeinander nehmen. Früher wurden diese Festwochen in einer Allianz mit den Festwochen durchgeführt, diese wurde aber vor ein paar Jahren von den Festwochen einseitig beendet. Kein großes Drama, auch wenn ich lieber Koalitionen schließe, als Gräben zu graben. Wir arbeiten doch alle für die gleichen Menschen in dieser Stadt, gemeinsam sind wir stärker.

Dieses Musikfest hat Egon Seefehlner, Generalsekretär des Konzerthauses unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, 1947 gegründet, um Musik, die in der NS-Zeit nicht präsentiert werden durfte zu präsentieren. Ich wollte an diese Tradition anlehnend dieses Jahr einen Fokus auf Prometheus setzen und hatte vor, Luigi Nonos Prometeo in einer exemplarischen Aufführung zu verwirklichen. Das Werk wird ganz selten gespielt, es ist wahnsinnig aufwendig. Raumverteiltes Orchester in verschiedenen Höhen, eine wilde Geschichte. Das ist leider so ein Projekt, das ich absagen musste, weil das kostet so wahnsinnig viel Geld. Was übergeblieben ist, sind einzelne Versatzstücke dieses prometheischen Zyklus‘.

Über Programmieren und das wöchentliche Evaluieren der Konzerte

B: Und nach dem Konzert, in diesem privaten Raum im Restaurant, da fragen Sie dann die Musiker*innen, was sie vorhaben und stimmen ab, wie das bei Ihnen reinpasst?

N: Das ist ein kontinuierlicher Prozess, ich bin ständig in Kontakt mit ihnen. Aber das mach‘ ich ja nicht allein, ich habe eine Reihe von Kolleg*innen, die unter der Leitung von Rico Gulda einen sehr, sehr großen Anteil an der Planung haben. Am Schluss kommt alles einmal zu mir, das ist auch eine ganz schöne Rolle. Führt aber auch dazu, dass ich eigentlich immer ins Konzert gehen sollte (lacht), weil ich das dann auch verifizieren muss. Ich kann Ihnen auch erzählen, dass wir jedes Konzert evaluieren, künstlerisch und finanziell. Das ist dann so. Wenn sich eine Gruppe von Menschen, das sind auch nur sieben-acht Leute, über Jahre über dieselben Dinge unterhält, dann entwickelt man eine gemeinsame Sprache. Dann kann man auch erkennen, was die jeweiligen Aussagen über die künstlerische Qualität bedeuten. Das ist ein sensitiver Prozess, wir machen das hinter verschlossenen Türen (lacht), aber das ist total wichtig. Wir sind kritisch zu den besten Freunden, das müssen wir sein. Wir müssen auch kritisch zu uns selber sein. Es muss lebendig bleiben. Wir sind alle unterschiedlich. Wenn wir beide über dasselbe Konzert sprechen würden, würden wir vielleicht einen Konsens haben über einen Teil, und in anderen Bereichen würden wir unterschiedliche Dinge erlebt haben. Das ist ja auch die Qualität vom Ganzen. Es ist hochindividuell und trotzdem gemeinschaftlich. Das fasziniert mich schon seit jeher, die zivilisatorische Leistung, die in diesem ganzen Geschehen liegt. Das muss man sich mal abstrakt vorstellen. Wir nehmen das immer so hin, als ob das normal ist. Das ist überhaupt nicht normal.

B: Eigentlich sind wir Tiere, die nur essen, schlafen usw. müssten...

N: Es ist fantastisch, dass wir wirklich Räume haben, die für nichts anderes gemacht sind, als gemeinschaftlich zu hören, wahrzunehmen, unserer Fantasie Raum zu geben. Dass es eine Stadt gibt, wie diese, wo die Musik so eine Rolle spielt. Und das tut sie. Das hat nicht nur mit ‚Klassik‘ zu tun. Das Publikum ist absolut nicht zu unterschätzen, ich liebe dieses Publikum hier. Es ist überhaupt nicht konservativ. Wenn man das Publikum in dieser Stadt in eine Spirale der Berechenbarkeiten lässt, dann kann’s sein, dass es konservativ ist. Aber dann versteht man einen Teil vom Geschäft nicht.

Ein Buchtipp und was das Prinzip der Resonanz mit Programmieren zu tun hat

B: Sie machen ja ein ganz buntes Programm mit verschiedensten Genres und Musikrichtungen.

N: Ja ganz bewusst! Ich möchte zum einen nicht sagen, wie die Hörer*innen sein sollen. Ich muss schauen, welche Sehnsüchte es gibt in dieser Stadt. Und wie können wir diese Sehnsüchte stimulieren. Es gibt einen Soziologen, der heißt Hartmut Rosa. Sein Buch, Resonanz, empfehle ich Ihnen. Fantastisches Buch, ein Schlüsselwerk zum Begreifen der Zusammenhänge. Wie Gesellschaft funktioniert, aber auch wie wir funktionieren, individuell. Er sagt, Resonanz funktioniere am besten, wenn ein Element der Irritation dabei ist. Und das ist genau das, was wir bei der Planung machen. Wir haben ganz klare Erwartungen und es gibt Elemente, die diese Erwartungen stimulieren oder brechen. Aber nicht mit der Stange, sondern klug brechen. Und Currentzis spielt da eine gute Rolle. Er wird immer noch nach den Konzerten Nachkonzerte machen, er wird Überraschungen bereiten und immer wieder neue Künstler*innen vorstellen.

 

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