Das beste Orchester östlich von Wien

Orchestergesang, ein Geiger in Topform und die Frage nach dem russischen Repertoire in Zeiten des Ukrainekriegs: Julian Rachlin mit Iván Fischer und seinem Budapest Festival Orchestra an einem ganz besonderen Abend im Konzerthaus.

Iván Fischer /// Kurcsák István (c)

Kein Konzert ist nur ein Konzert in diesen historisch-grauenvollen Tagen. Dass Iván Fischer, der immer schon für ausgefallene Ideen und Formate zu haben war (wie seine Mitternachtskonzerte auf Sitzsäcken) ein besonderes Zeichen setzen würde, war zu erwarten. Trotzdem traf mich die Emotionswucht besonders stark, als sein Budapest Festival Orchestra gleich zu Beginn Plyve kacha, ein ukrainisches Volkslied sang. Nicht wie ein perfekter Profichor, sondern wie echte Menschen, wie ein klagendes Volk.

Was noch nicht einmal langjährige Chefdirigent*innen können

Und dann: eine kurze, aber fulminante Demonstration der phänomenalen Fähigkeiten des Orchesters mit Smetanas Ouvertüre zur Verkauften Braut. So eine Einheit zwischen Musiker*innen und Dirigent*in bekommt man nur selten aufgetischt, meist nur bei eigenen Ensembles, wie Currentzis mit MusicAeterna oder Pichon mit Pygmalion. Fischer leitet sein Orchester seit fast 40 Jahren, deutlich länger also als die beiden anderen Herrschaften. Es ist schwer begreifbar, wie er ihnen aber immer noch so viel Spielfreude entlockt. Ob jung oder alt, alle spielten gefühlt für ihr Leben. Aber nur, weil sie endlich mal in Wien spielen durften, meinst du? Keineswegs! Als ich sie vor Jahren in der ungarischen Kleinstadt Kaposvár hörte, war der grauhaarige Solocellist genauso on Fire, wie auch alle anderen.

So sehr ich das BFO liebe, beim Browsen nach einer Tschaikowski-Aufnahme wäre es nicht meine erste Wahl (bei Mozart, Mahler oder Beethoven sähe das anders aus). Auch im Konzerthaus waren sie dieses Mal Ersatz, eigentlich hätten die St. Petersburger Philharmoniker unter dem greisen Temirkanov spielen sollen (zu einer kriegsbedingten Ausladung kam es gar nicht, der Wechsel stand schon länger fest). Die Mischung aus respektvoller Begleitung und punktuellen Soundausbrüchen ging aber gut auf, vor allem, da Solist Julian Rachlin in Tschaikowskis Violinkonzert die Initiative voll ergriff. He ruled, würde ich am liebsten schreiben, also mach ich das einfach...

Rachlin ruled

Er mischte eine ordentliche Prise Schmalz dazu, kostete den warm-weichen Riesensound seines Ex-Liebig-Stradivaris gerne ganz aus und bot genau die spätromantische Emotionsfülle, die diesem Stück so gut steht. Wenn man dieses so emotionale Stück kennt und liebt, ist die ‚Tränengefahr‘ sowieso immer gegeben. Während dieses grausamen russischen Angriffskrieges die herzzerreißende Canzonetta des 2. Satzes zu hören (19:46) war aber ganz besonders emotional. Ich weinte trocken in Gedenken an die Opfer und an das Russland, das ich liebe.

Im fetzigen letzten Satz gestikulierte die Mutter Rachlins neben mir immer wieder begeistert mit, bei meiner Lieblingsstelle (30:22) konnte ich mich dann auch nicht zurückhalten. Das war emotionaler Rollercoaster per se, nach Trauer Nervenkitzel. Seine Zugabe widmete Rachlin ebenfalls den Opfern in der Ukraine, dafür hätte er nichts Passenderes als Bach wählen können. Die Sarabande aus der 2. Partita brachte uns zurück in die trübe Realität, aber auch Hoffnung.

Die Exzellenz Fischers und seiner Ungar*innen beweist, dass sie auch nach diesen vier so unterschiedlichen und berührenden Programmpunkten vermochten, den Saal nochmal in ihren Bann zu ziehen. Die reichen Klangfarben von Rimski-Korsakows Scheherazade interpretierten sie mit einem massiven, aber variablen Klang. Das klang stellenweise wie eine russische Machtdemonstration.

Sind wir die freie Welt?

Ist das überhaupt zeitgemäß, fragen jetzt die politisch Hochkorrekten, all diese russische Musik so abzufeiern, gerade jetzt? Und wie! Künstler*innen nicht mehr einzuladen, die russische Staatspropaganda betreiben, ist ein logischer und richtiger Schritt. Aber den Fehler, unsere Programme einzuschränken (oder alle russische Künstler*innen zu boykottieren) dürfen wir nicht begehen. Sind wir denn nicht die freie Welt? Und überhaupt: Solange wir den agitierenden Antisemiten und Hitlerliebling Wagner rauf und runter spielen, wäre es lächerlich, auf Tschaikowski zu verzichten (der sich zugegebenermaßen auch antisemitisch äußerte...). Lächerlicher Vergleich? Vielleicht, mindestens so lächerlich wäre, auf das russische Repertoire zu verzichten.

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