Die Waschmaschine als Ort der Katharsis

Allein im Volkstheater - Stefan Kaegi von Rimini Protokoll beweist mit Black Box, dass Audio-Tour Kunst kann.

Endlich betrete ich nach monatelangem Entzug wieder ein Theatergebäude. Dass das Volkstheater zum Anlass seiner Wiedereröffnung nach der Grundsanierung des Neorenaissancebaus den roten Teppich ausgerollt hat, lässt mich die Treppen zum Haupteingang nochmal bedächtiger hinaufsteigen. Freilich hätte ich mir meinen ersten post-Lockdown Theaterbesuch etwas anders vorgestellt… denn heute erwarten mich weder Schauspieler*innen mit großen Monologen, noch anregende Gespräche mit meiner Begleitung oder ein Achterl Veltliner in der Roten Bar. Nein, heute bin ich allein, hier auf den Brettern, die die Welt bedeuten.

Lediglich an der Garderobe begegnet mir Personal, das mich mit Textilhandschuhen und Kopfhörern ausstattet. Am Tresen läuft auf einem Bildschirm ein Countdown. Exakt bei 00:00 spricht mich eine Stimme vom Tonband an und schickt mich auf eine Reise durch den Raum und die Räume dieses Theaters. „Bereitmachen zum langsamen Öffnen der Tür – Aktion!“ oder „Setz dich auf den ersten schwarzen Sessel auf der linken Seite“ lauten die Anweisungen. Anfängliche Verunsicherung, ob ich wohl die richtige Tür geöffnet, die richtige Abzweigung gewählt habe, weicht rasch einem anderen Gefühl: Wehmut.

Der Audio-Rundgang wird zu einer Kunstinstallation, bei der ich und das Haus die Hauptrolle spielen

Spätestens in der Werkstätte der Kostümbildner*innen, als mich die Stimme auffordert, die schillernden, bunten Gewänder an den Kleiderstangen anzufassen, ist dieser Besuch kein bloßer Audioguide-Rundgang mehr. Im Hintergrund rattern die Nähmaschinen und eine Kostümbildnerin bezeichnet lachend die Waschmaschinen, die sich an der Wand neben mir reihen, als Ort der Katharsis. Ich muss über den Vergleich schmunzeln und will soeben einen Schritt auf die Geräte zugehen, da werde ich bereits dazu angehalten, den Raum wieder zu verlassen: Hand auf die Klinke und – Aktion!
Für knappe neunzig Minuten werde ich kreuz und quer durch das Haus geschickt, bekomme die Bühne von unten und oben, von nah und von ferner zu sehen und zu spüren. In der Requisite flackert ein billig wirkender Feuerkelch, im Pausenraum darf ich ein Getränk aus dem Kühlschrank nehmen und in der winzigen Koje des Souffleurs stoße ich mir beinahe den Kopf an einer Kante. Schließlich stehe ich sogar selbst kurz auf der Bühne – Lampenfieber inklusive – und spüre die Hitze der Scheinwerfer auf meiner Haut während mir durch die Kopfhörer Applaus eingespielt wird. Dass jeder Winkel des Gebäudes in neuem Glanz erstrahlt, die Gänge noch vom Geruch frischer Wandfarbe erfüllt sind und die roten Polstersessel im Saal kein bisschen durchgewetzt sind macht noch schmerzlicher eine allumfassende Abwesenheit spürbar. Die Abwesenheit von Menschen.

Entzugsschmerzen beim Abschied

Tatsächlich habe ich an diesem Nachmittag mit vielem gerechnet, jedoch nicht damit, wie emotional ein Theaterbesuch ohne Aufführung werden könnte. Als mich die Stimme zuletzt ins Foyer hinunterschickt, will ein Teil von mir trotzig auf den Treppen sitzenbleiben und protestieren: Die Aufführung hat doch noch gar nicht begonnen! Gezwungenermaßen habe ich das Volkstheater schließlich doch verlassen. Bis es soweit ist, dass ich wieder einen Theaterabend erleben darf, werde ich meine Waschmaschine auf ihre kathartischen Fähigkeiten überprüfen. Allen anderen würde ich einstweilen dringend empfehlen, sich von Rimini Protokoll durch die Räume des Volkstheaters führen zu lassen. (Vorerst leider ausverkauft…)

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