Die „neue“ Carmen

Calixto Bieito, der Regisseur, dem sein Skandalruf vorauseilt, zeigt seine Carmen aus 1999 seit gestern nun auch an der Wiener Staatsoper – kein Buh zu hören.

Foto: Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Foto: Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Das liegt allerdings auch daran, dass die Wiener Staatsoper noch immer nur für die Kameras spielt. Applaus kam nach dem letzten Vorhang aus dem Orchestergraben und von der Bühne. Allerdings hätten Skandaljäger hier nicht unbedingt ihr Fressen gefunden. Klar, manchmal geht es - wie man bereits wusste - ordentlich zur Sache: Gewalt, Nacktheit, Sexualität – doch so ist die Geschichte der schönen Carmen nun einmal.

Bogdan Roščićs Inszenierungs-Einkaufstour, die dazu diente, möglichst schnell auf einen regietechnisch modernen Stand zu kommen, bringt unter anderem diese „neue“ Carmen nach Wien. Warum eine schon 20 Jahre alte Carmen die 40 Jahre alte Inszenierung ablöst? Nennt man das modern? - Zumindest moderner als Franco Zeffirellis Hollywood-Deutung, die dem Wiener Publikum gut und lange gedient hat. Bieitos Carmen, die die Handlung in das spanisch-marokkanischen Grenzgebiet setzt, ist mittlerweile ein eigener Klassiker, der weder verstaubt noch inaktuell ist. Weg mit den Klischees, dem Kitsch, den Heroen und den Beschönigungen.

Habanera für schmachtende Soldaten aus der Telefonzelle

Carmen ist mehr als eine schwarzhaarige Schönheit mit rotem Flamenco-Kleid und Blume im Haar. Carmen ist eine starke Frau, sie weiß, was sie will und sie liebt ihre Freiheit über alles – letztendlich stirbt sie sogar dafür. Bei ihrem ersten Auftritt aus einer Telefonzelle, trägt sie einen Arbeitskittel und stimmt zwischen lustvollen Soldaten die Habanera an. Die Bühne ist nur mit einem mittigen Fahnenmast und der Telefonzelle ausgestattet – viel Platz für allerlei Getümmel und Akrobatik.

Im zweiten Akt ist es ein Oldtimer, der auf der nebeligen Bühne bespielt wird: ob Party im Auto, am Auto (besser nicht Zuhause nachmachen), Spielchen mit der Autotüre oder Tänzchen am Kofferraum, es sind keine Grenzen gesetzt und das wird freudig ausgenützt. Den Kontrapunkt dazu bieten ein alter Mann und ein Kind, die es sich am anderen Ende der Bühne stumm mit einem kleinen Christbaum gemütlich machen.

Foto: Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Foto: Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Am Anfang des dritten Aktes ragt auf der Bühne die Silhouette eines großen Stieres aus der Dunkelheit und ein Soldat, der seine Kleider abgelegt hat, beginnt davor zu tanzen – ja, ganz nackt. Dieser Tanz, der von einem wunderschön-ruhigen Vorspiel begleitet wird, hat für einige Zuseher*innen nicht ganz ins Bild gepasst, doch es handelt sich hierbei tatsächlich um eine Anspielung auf eine traditionelle Mutprobe, die nackt im Mondschein ausgeführt wird. Carmen und ihr Anbeter, Don José reisen in einer Autokolonne von Schmugglern (die heiße Beute: Elektrowaren) sie ist mit ihren Freundinnen dabei, um durch Schmeicheleien Probleme am Zoll zu vermeiden. Doch die schöne Carmen sieht ihre Freiheit immer mehr durch Don José bedroht, verliert ihr Interesse an ihm und wendet sich einem Stierkämpfer zu. Don José schäumt vor Eifersucht und verlässt die Schar, in die er sowieso nicht wirklich hineinpasst, mit Micaëla, einem Mädchen aus seinem Dorf, das ihn gesucht hatte. Micaëla nimmt ihren ganzen Mut zusammen, um ihn zurückzuholen und agiert in dieser Inszenierung nicht als bloße Allegorie der Tugend, sondern als eine echte Rivalin Carmens.

Prend garde à toi, Carmen: Showdown trotz Warnung

Beim finalen Showdown, einem Stierkampf, stürmt der Chor die Bühne, Festtagsstimmung macht sich breit. Carmen ist auf Einladung des Star-Toreros zugegen und bekommt „prend garde à toi“ (pass auf dich auf) zugezwitschert, denn man hat ihren Ex, Don José, in der Menge gesehen. Sie läuft jedoch nicht weg, stellt sich dem Eifersüchtigen auf der leeren dunklen Bühne, auf der ein weißer Kreis eine Arena markiert, und beendet noch einmal ausdrücklich die Beziehung. Sie liebt ihn nicht mehr, sie liebt jetzt einen anderen. Damit kommt Don José nicht klar, das folgende Ende ist allbekannt.

Ein Blick auf die Besetzung garantiert die musikalische Qualität: Der unbeholfene Don José ist niemand anderer als der polnische Startenor Piotr Beczala, der um Anita Rachvelishvili, eine der gefragtesten Mezzosopranistinnen unserer Zeit, als schauspielerisch eher geradlinige Carmen kämpft. Einen echten Rivalen findet er in Erwin Schrott, als sexy Torero im Anzug und eine treue, verliebte Freundin aus seiner Heimat in der außergewöhnlichen Einspringerin für Micaëla: Vera-Lotte Boecker (seit dieser Saison im Ensemble der Wiener Staatsoper), die nicht nur schauspielerisch, sondern auch gesanglich überzeugt. Rund herum findet sich ein spielfreudiges Ensemble, ein tanzender Chor und ein hervorragendes Orchester unter dem Dirigat von Hausdebütanten Andrés Orozco-Estrada.

Die Begeisterung über die Premiere hält sich in Wien allgemein in Grenzen, manch einer weint noch der harmonischen wie harmlosen Zeffirelli-Version nach. Schade, denn die neue Carmen ist modern, ausdrucksstark und unbeschönigt. Wer die Premiere versäumte, kann sie in der ORF-TVthek, nachschauen. Wer sich vor der Inszenierung fürchtet, ist auf oe1 gut aufgehoben, dort findet man ein sensationelles Audio.

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