Erfahrung trifft Jugend
Über ein revolutionäres Musikformat, das zu einer Workshop-Akademie ausgebaut wird und was der menschliche Drang nach der Urvibration mit dem Iran und seiner Ernennung zu tun hat - Ein Gespräch mit Christian Schulz, dem neuen Generalsekretär der Jeunesse.
Bohema: Das war auch für die Jeunesse eine turbulente Zeit. Ich hatte im Juni schon einen Interviewtermin mit Ihrem Vorgänger Philippe Comploi, was dann kurzfristig nicht zustande kam. Mittlerweile haben Sie Herrn Comploi abgelöst und sind damit in kurzer Zeit der zweite Cellist an der Spitze der Jeunesse. Ich spiele auch Cello, darf ich mir jetzt Hoffnungen machen oder bleiben Sie länger?
Christian Schulz: (Lacht) Philipp hat als Obmann damals interimistisch das Amt des Generalsekretärs mitübernommen. Das war nur eine Übergangslösung. Ich bin jetzt schon in einem Alter, wo ich mich gerne ‘setteln‘ würde, auch wenn das Wort im Zusammenhang mit der Jeunesse eher unpassend ist. Sie ist jung, aufstrebend und möchte frisch und frech sein. Soweit es in dieser kurzlebigen Zeit möglich ist, plane ich jedenfalls langfristig.
B: Sie sind Dirigent, Komponist und Cellist, waren seit Jahrzehnten bei den Symphonikern. Jetzt leiten Sie die Jeunesse. Wie viel Zeit bleibt für diese anderen Tätigkeiten?
S: Derzeit praktisch nichts. Ich wollte mich da bewusst in das spannende Abenteuer stürzen, keine Kompromisse machen. Ich unterrichte ein bisschen Dirigieren, meine Student*innen möchte ich nicht im Stich lassen. Aber sonst bin ich zu 120 Prozent bei der Jeunesse und die 30 Prozent auf die 150, die habe ich fürs Unterrichten.
B: Wann und wie kam es zu diesem fliegenden Wechsel in der Leitung?
S: Ich bin hier noch ein Baby im zweiten Monat (lacht). Im Juni waren die ersten Gespräche, im Juli wurde es fixiert. Nach dem ersten Anruf hat es erstmal gearbeitet in mir. Die letzten zehn, elf Jahre habe ich sehr viel Zeit darauf verwendet, die nächste Generation ins Berufsleben zu begleiten. Erst einmal mit einem Iran-Projekt. Ich war ab 2010 gute sechs Jahre musikalischer Leiter am Österreichischen Kulturforum Teheran. Das hat mit zwölf Musiker*innen und zehn Sänger*innen begonnen, am Ende waren wir über 300. Wir haben ein Symphonieorchester, ein Opernstudio, ein eigenes Opernorchester und einen Kinderchor mit drei Altersstufen aufgebaut.
Da habe ich die Liebe zum Weitergeben noch stärker entdeckt, weil dort unsere normalen Parameter einfach nicht mehr greifen. Bei uns kann man als erfolgreiche*r Musiker*in viel Geld und Anerkennung bekommen. Beides stimmt im Iran nicht. Für Komponist*innen gibt es nicht einmal Leistungsschutzrechtrechte. Da sieht man:
Der Mensch hat einen Drang, mit irgendeiner Art von Urvibration in Verbindung zu kommen
Mitzuschwingen, aufzuregen, anzustacheln. Und das ist viel stärker als irgendwas, was man mit Geld oder Anerkennung abgelten kann. Bei uns ist das so verschüttet, dass man‘s nur vermutet. Diese Erfahrung ist letztlich die, die mich bewogen hat, den Job anzunehmen.
B: Während des Lockdowns hat man Schreckensgeschichten über die finanzielle Lage der Jeunesse gehört. Dass überlegt wurde, vieles ersatzlos aus dem Programm zu streichen. Die Öffnung kam scheinbar gerade rechtzeitig. Wie stabil ist die Situation jetzt?
S: Die Lage ist so stabil, dass wir in Zukunft in der gewohnten Dimension weitermachen können, mit unserem Programm in den Bundesländern und Wien sowie unserem breiten Angebot betreffend die Genres und Alterszielgruppen.
Wir müssen vorerst nichts streichen
Ganz im Gegenteil, wir erweitern eher. Damit meine ich nicht, dass wir jetzt zehn neue Zyklen ankündigen. Sondern, dass wir die neuen Zyklen, die Innovationen, wie z.B. die Staged Concerts, aktiv weiterführen und ausbauen.
B: Á propos Staged Concerts Wie soll man sich dieses Format vorstellen?
S: Das war eine Masterclass für Musiker*innen und Theatermacher*innen, die die Pandemie dann in eine Videoproduktion verlagert hat. Wie ich diese Videos gesehen habe, dachte ich mir: Das gibt es noch nicht.
Das ist wirklich was Neues!
Es wurde mit der Gruppe Oorkaan zusammen jeweils eine musiktheatralische Darstellung erarbeitet, bei der die Musizierenden die Performer*innen auf ihrem Instrument und in ihrem ganzen Wesen sind. Das ist so spannend! (Christian Schulz kommt in Schwung, ist sichtlich begeistert.) Durch diese Arbeit werden die Musiker*innen frei, sie spielen auch auswendig. Wir haben danach sofort Rückmeldungen bekommen, dass man eine völlig andere Bühnenpräsenz merkt, wenn jemand bei diesem Workshop war.
B: Und das wird jetzt weitergeführt?
C: Ja, wir planen dafür gerade eine eigene Akademie, sind in Verhandlung mit Partnern. Ich kann noch nicht verraten, mit wem. Das wird dann ein Lehrgang, der trotz eines Hauptpartners nicht an irgendeine bestimmte Hochschule oder Universität gebunden sein wird. Im Frühjahr 2021 ist eine Phase geplant, danach möchten wir diese Workshops über mehrere Semester ziehen.
B: Sie werden also schon im Frühjahr mit Partnern arbeiten?
C: Ja! Die haben wir auch schon, nur ist das Package noch nicht zu Ende geschnürt, an welchem Ort das ist, zu welcher Zeit. In Kürze wird auch die Bewerbung ausgeschrieben.
Das soll eine Art Masterstudium sein
Mit einem Stufenplan, nicht einfach ein Zyklus Staged Concerts (das könnte auch sein). Die Idee ist, dass die ausgebildeten Musiker*innen und Theatermacher*innen dann in unsere bestehenden Formate, wie Triolino, Klingendes Wohnzimmer usw. reinwachsen, um dann auch dort befreit und ohne Noten zu spielen.
B: Wie viele Musiker*innen werden aufgenommen?
S: Das werden im Frühjahr wahrscheinlich sogar vier Ensembles, die genaue Zahl hängt davon ab, wie viel Budget wir zusammen mit den Partnern aufbringen werden. Als zweiten wichtigen Part bilden wir auch junge Theatermacher*innen bzw. Regisseur*innen/Choreograf*innen aus, die sich intensiv mit der Inszenierung von Musik für ein junges Publikum beschäftigen wollen. Alle Teilnehmer*innen werden dann für die etwa 10 Tage gemeinsam dort wohnen, wo auch der Workshop stattfindet.
B: Ist es dann verpflichtend, auch die nächsten Stufen mitzumachen?
S: Beim Lehrgang ist man dann länger dabei. Die Teilnehmer*innen bekommen die Möglichkeit, kommende Saison dann auch bei unseren Kinder- und Familienformaten, wie z.B. Triolino, mitzuwirken. Mich begeistert das wirklich sehr. Allein schon nach den Teasern dachte ich mir: Wow, schade, dass es das vor 30 Jahren nicht gab.
B: Was es vor 30 Jahren und früher schon gab, sind all die unkonventionellen Konzertformate, für die die Jeunesse Österreich seit der Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt ist. Gibt es momentan weitere solche Format-Ideen?
S: Wir haben vor kurzem mit Urban Fusion begonnen und werden im Dezember mit dem Tandem Songwriter Festival starten. Der Urban-Fusion-Zyklus ein sehr spannendes Format im Porgy mit mehreren Bands aus verschiedenen Stilrichtungen bei einem gemeinsamen Konzert, das wir auch ausbauen werden. Im Laufe meiner Jahre habe ich einige internationale Kontakte in Jazz-, Pop- und Songwriter-Bereich gesammelt. Da werden wir dann ein paar jungen Formationen finden, die wir mit unseren Partnern auch international auf den Weg schicken könnten.
Das habe ich im Iran auch gesehen, wie schön es ist, wenn man Formate entwickelt, die dann auch international touren können, raus aus dem Wohnzimmer, sozusagen. Wenn man es irgendwann wieder darf, dann werde ich auch nach Amerika fliegen, um mit einem befreundeten Produzenten gemeinsam Ideen für Urban Fusion und das Tandem Songwriter Festival auszuarbeiten. Aber das sind vorerst nur Träume.
B: Würden Sie mit uns Ihre Rosinen aus dem aktuellen Programm teilen, die Bohemaleser*innen auf keinen Fall verpassen sollten?
S: Ein nahes Highlight ist das Konzert mit dem MUK.sinfonieorchester am 5. November. Bruckners Siebte kann ich als Cellist nur empfehlen. Die Rosinen sind für mich generell unsere Featured Artists, die Oboistin Katharina Hörmann und das Duo Aliada in Wien und in den Bundesländern, sowie unsere Jugendorchester: die Webern Kammerphilharmonie, das Wiener Jeunesse Orchester oder das Webern Symphonie Orchester.
B: Hören Sie neben Ihrem Job viel Musik?
S: Ja, schon.
B: Würden Sie etwas, das Sie gerade besonders bewegt mit unseren Leser*innen teilen?
C: Gerne: Das wäre Mahlers Vierte, davon der vierte Satz.