Manifest eines Einzeltäters
Ein Jahr nach dem blutigen Terrorakt in Wien bringt das WERK X-Petersplatz die Innenansicht eines Attentäters auf die Bühne. Bohema hatte Fragen.
Es sind Szenen wie in einem erschreckend realen Ego-Shooter-Computerspiel: Aus Sicht eines bewaffneten Täters sieht das Theaterpublikum eine Videoprojektion von flanierenden Fußgänger*innen am Graben. Es ist eine suchende Perspektive, das Ziel noch nicht klar. Der Blick schwankt von links nach rechts, die Schritte sind unsicher, beinahe torkelnd bewegt sich die Person über das Backsteinpflaster. Plötzlich scheint ein Opfer gefunden, wird anvisiert. Eine Frau blickt direkt in den Lauf der geladenen Waffe, reißt die Augen weit auf. UND.
[…]
Gestern, am 2. November, jährte sich der Terroranschlag in Wien, der in der Seitenstettengasse seinen Ausgang nahm und die Stadt für eine Nacht in den Ausnahmezustand versetzte. Am WERK X-Petersplatz kommt nun ein Jahr später Herostrat auf die Bühne, das Protokoll einer Radikalisierung, so beschreibt Regisseur Kai Krösche den inneren Monolog Paul Hilberts in Jean-Paul Sartres Erzählung von 1939.
Dargeboten wird die Geschichte eines vom Leben enttäuschten Mannes im Paris der späten 30er Jahre, der seinem fehlenden Anschluss zum sozialen Leben mit rohem Hass gegen die Menschheit begegnet. Es ist Pauls Kampf gegen sich selbst, der Fremden am Ende das Leben kostet. Gespielt wird die männliche Figur von der jungen Schauspielerin Victoria Halper. Eine Entscheidung, die nicht auf genderflexibles Besetzen zurückgeht: „Wenn man einen Mann diese Rolle spielen ließe, dann kann das am Ende zu realistisch werden, weil das ja doch ein sehr klarer, realistischer Text ist. Diese Distanz zu schaffen, war wichtig.“ Wichtig wird diese Abgrenzung vor allem beim sogenannten „Kernmanifest“ im Stück, wenn sich Paul Hilbert direkt an die Außenwelt wendet:
„Sie werden neugierig sein, nehme ich an, zu erfahren, wie ein Mensch sein kann, der die Menschen nicht liebt. Nun, ich bin so einer, und ich liebe sie so wenig, dass ich gleich ein halbes Dutzend davon töten werde: vielleicht werden Sie sich fragen: warum nur ein halbes Dutzend? Weil mein Revolver nur sechs Patronen hat. Eine Ungeheuerlichkeit, nicht wahr?“
Bühne mit Blick ins Seelenleben
Die Bühne ist vom Zuschauer*innenraum abgegrenzt mit einer Wand aus transparentem Stoff, sie wird zur Projektionsfläche für Videoausschnitte, für flackernde Farben-und Formenspiele, die durch die kuratierte Soundgestaltung ein Eigenleben entwickeln. Dahinter ein Tisch mit Stühlen, nackte Schaufensterpuppen sind in ihrer starren Unbeweglichkeit ausgestellt – steriles Weiß dominiert im Bühnenbild von Matthias Krische das Geschehen. Ein geschützter Raum abseits der Realität? Er ist die visuelle Umsetzung des Seelenlebens des Protagonisten: „Ein Innenraum, der um sich selbst kreist. Alles, was die Figur erzählt, ist letztlich eine Interpretation der Welt“, erklärt Regisseur Krösche im Gespräch mit Bohema und ergänzt: „Wir reden hier von einer Figur, die im Grunde selbst unter dem patriarchalen System leidet, […] unter einer Vorstellung von Männlichkeit, der sie selbst nicht genügt.“
Obwohl die Aushandlung des Männlichkeitsbegriffs noch nicht allzu lange öffentlich debattiert wird, findet Sartres Geschichte seinen Ursprung in der Antike: Sie geht auf die Figur des Herostratos zurück, die etwa 350 Jahre v. Chr. den Tempel der Artemis in Ephesos in Flammen steckte. Der Auslöser: Geltungssucht. Ein Motiv, das viele Amokläufer bis heute teilen, weiß Krösche, der sich in der Vorbereitung mit online-verfügbaren Manifesten, sprich Erklärungen und GoPro-Filmaufnahmen von Amokläufern und Attentätern, beschäftigt hat.
Das Böse spielen – Fragen an die Protagonistin
„Wie ist es Paul Hilbert zu spielen? Ich würde sagen, der Weg dorthin war nicht einfach. Es ist sehr schwer nachzuvollziehen, wie und warum es so weit gegangen ist“, gibt Schauspielerin Victoria Halper zu bedenken und meint damit, dass trotz des Hineinversetzens in die Rolle der tatsächliche Griff zur Waffe unerklärlich bleibt. Einen leichten Menschenhass, wenn man in der Innenstadt von A nach B hetzt, würden wohl alle kennen, schmunzelt sie, aber „einen Schritt weiterzugehen und die Menschheit an und für sich zu hassen“ sei außerhalb jeder Vorstellungskraft. Krösche bestätigt, dass dies auch einer der Knackpunkte der Inszenierung ist: „Es gibt unzählige Incels, es gibt unzählige junge Männer, die sich betrogen fühlen von der Frauenwelt, die sich dann auch wirklich in radikale Gedanken hineinreden. Die aber trotzdem nicht auf die Straße gehen und auf Menschen schießen.“ Es stellt sich also die Frage: „Was ist das eigentlich, was ist das für eine Welt und woher kommt es?“, so Krösche.
Halper war es wichtig, keine Fantasiefigur auf der Bühne darzustellen oder eine Karikatur der Verzweiflung zu zeigen: „Damit man sich die Frage stellt: Wie gehen wir gesellschaftlich mit diesen Leuten um?“ Dunkle Gefühle oder persönliche Ängste, die jeder in sich trägt, wurden zur Inspirationsquelle für die Schauspielerin. Um der menschlichen Tragödie auf den Grund zu kommen, müsse man auch von sich selbst schöpfen, so Halper.
Was im WERK X-Petersplatz auf die Bühne gelangt, ist die Auseinandersetzung mit einem Individuum, das sich in seiner Welt nicht gesehen fühlt, dessen Gefühle im inneren Monolog stecken bleiben, bis sie sich in Form von physischer Brutalität aus dem engen Korsett des einsamen Hasses befreien. Es ist die Erzählung einer Ausweglosigkeit, die bis zur völligen Explosion unbemerkt bleibt. Die Geschichte eines Einzelgängers, der kein Entkommen aus der schonungslosen Wirklichkeit sieht – bis er zur Waffe greift.
Termine
Was der Regisseur Kai Krösche erreichen will, ist, „dass man danach die Dinge wieder ein bisschen weniger versteht.“ Was das bedeutet, muss jede*r Theaterbesucher*in für sich selbst herausfinden. Drei Vorstellungstermine gibt es für das düstere Stück noch: Täglich von 03.-06. November 2021. Beginn ist jeweils um 19.30 Uhr.