„Flanieren, schwitzen und schreiben“
Ein Gespräch mit Andreas Altmann über Begegnungen, Kaffeehaus und das „bloße Leben“ – direkt aus der zweitschönsten Stadt der Welt: Paris.
Andreas Altmann ist Autor und Reporter und hauptberuflich unterwegs, um Geschichten zu sammeln. Neben bald zahllosen Büchern aus allen Teilen der Welt schrieb er auch über seine Kindheit mit einem gewalttätigen Vater und die Übergriffe der katholischen Kirche. Heute lebt er in Paris, unter anderem mit dem Egon Erwin Kisch-Preis unter dem Arm. Vielbeschäftigt wie er ist, musste ich ihn lange verfolgen, bis er mir endlich Rede und Antwort stand...
Bohema: Andreas, wir kennen uns jetzt seit fast 4 Jahren! Bei unserem jährlichen Kaffeetrinken habe ich immer das Gefühl, wir können uns von einer jeweils ganz anderen Sicht auf die Welt berichten. Können zwei wie wir Freunde sein? Oder bin ich der verrückte Fan, der dich nicht zufrieden lässt?
Andreas Altmann: Hui, du fängst gleich mit den schwersten Fragen der Menschheit an. Zuerst, grundsätzlich: Ich kann bei jeder und jedem andocken, der Geist hat, Humor und Herzensbildung. Mit dem Dämlichen, den Todernsten und Rohen, da funktioniert es eher nicht. Bei der Freundschaft zwischen Frau und Mann wird es komplizierter. Was immer ich damit sagen will: Für jede Frau, die meine Bücher liest, will ich ein Museum hochziehen lassen.
B: Was sind dir die liebsten Begegnungen unterwegs?
A: Uff, ich habe kein Ranking, sagen wir: Miss Blumenschön in Hinterindien war mir die liebste Begegnung und Madame Rosemarie aus dem 18. Arrondissement in Paris war der Horror! Nein, was ich suche, ist weder das Liebste noch das Schönste.
Was aber unbedingt sein muss: Innigkeit, Adrenalinfluss, Aufregung, das umwerfend grandiose Gefühl, dass ich am Leben bin.
B: Dein neustes Buch, eine Sammlung aus Reportagen, heißt „Bloßes Leben“ – was kann man sich darunter vorstellen? Und worum geht’s?
A: Woody Allen wurde einmal gefragt: „Sag an, Woody, um was geht es in Tolstois Krieg und Frieden?“ Und Allen, wundersam logisch: „Na um was denn, um Krieg und Frieden halt.“ Also, worüber soll ein Reporter, der sich gern als Weltbürger aufspielt, schon schreiben als über die – Welt. Das wären Reportagen aus allen fünf Kontinenten, Begegnungen mit Frauen und Männern und Augenblicken, einmal voller Herrlichkeit und einmal voller Niedertracht, einmal voller Glück und einmal voll mit Elend, einmal wundersam witzig und einmal eher todtraurig. Somit jeder Mensch, der das Buch liest, etwas lernt: über sich, über unseren Planeten, über seine acht Milliarden Nachbarn.
B: Du hast einen wilden Berufsweg hinter dir: Privatchauffeur, Dressman, Anlageberater, Straßenbauarbeiter, Buchclubvertreter... Du hast mehrmals studiert und warst unter anderem auch Schauspieler am Wiener Schauspielhaus. Sieht so der echte Weg in die Selbstständigkeit aus?
A: Die Jugend stellt putzig originelle Fragen. Und ich bin schon wieder eine Enttäuschung, denn ich weiß nichts vom „echten Weg in die Selbstständigkeit“. Das Anstrengende am Erwachsenwerden ist, dass jeder (und jede) seinen ihm eigenen Weg finden muss. Die einen stürmen den Himalaya hinauf, die anderen wollen in sieben Ozeanen tauchen, die dritten wandern ins Kloster und manche, ich zum Beispiel, sind schwer verliebt in die Welt und nochmals schwer verliebt in die deutsche Sprache, sprich, wollen…
… durch Länder flanieren und anschließend sitzen und schwitzen und schreiben.
B: Welche Verbindung hast du heute zu Wien?
A: Die Verbindung, die ich zu allen großen, eleganten Städten habe: dass ich mit Freude und Hurra immer wieder in diese Stadt zurückkehre. Zudem haben die Ösis eines der sieben Weltwunder erfunden, wofür der Rest der Menschheit sie bis zum letzten Sonnenuntergang im Kosmos anbeten muss: das Kaffeehaus, eine Nervenheilanstalt, ein Ort, der wie kein anderer zum Weltfrieden beiträgt, eine Lokalität, ohne die ein veritabler Schreiber nicht existieren kann, denn dort darf er hocken und lesen und endlos lange über das einzigartige Geschäft des Schreibens sinnieren. Wie redete Alfred Polgar, ein großer Sohn Österreichs, über die Wiener Literaten in den Kaffeehäusern: „Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“
B: Deine Reisen sind immer von Neugier und Mut, sich seiner Umgebung hinzugeben, geprägt. Andererseits bist du so schlau, dich aus brenzligen Situationen wieder zu befreien. Wovor hast du Angst, oder was würdest du nie tun?
A: Ich habe vor so vielem Angst. Und nie und nimmer war ich je tollkühn, will sagen:
Ich habe mir immer, bevor ich losging, genau überlegt, ob die Chancen groß genug sind, wieder heil davonzukommen.
Was sich natürlich so genau nicht bestimmen lässt. Deshalb haben die Götter das Glück erfunden, ohne das niemand über die Runden kommt. Aber immerhin habe ich ein begabtes Mundwerk, das durchaus mithelfen kann, um Brenzligkeiten zu entwischen. Ach ja, die Liste der Dinge, vor denen ich schreiend davonlaufen würde, wäre endlos.
B: Wie wird man „streetwise“?
A: Indem man mit offenen Augen, mit offenen Ohren, mit Hirn und Herz durch die Welt geht. Und Frauen und Männer und Augenblicke wahrnimmt, sie sieht, sie zu verstehen versucht, ja, sich nah, ganz nah traut. Also das Gegenteil von dem, was man heute an allen Ecken und Enden sieht: die an der Welt vollkommen Desinteressierten, denn das Einzige, worauf sie starren, sind die 105 Quadratzentimeter ihres Handys. Die 510 Millionen Quadratkilometer der Erde lassen sie links und rechts liegen. Sie werden nie streetwise, dafür wissen sie, welcher Celebrity-Blödian welche Sneakers beim letzten Celebrity-Blödian-Interview getragen hat. Wie heißt es so trefflich: Wissen ist Macht, aber nichts wissen macht nichts.
B: Die Kunst- und Kulturwelt kann manchmal furchtbar anstrengend sein, mit Neid und Oberflächlichkeit. Wie bleibst du beim Schreiben, ohne dir den Swing nehmen zu lassen?
A: Ich bewege mich nicht in der Kunst- und Kulturwelt, in der bin ich lediglich Konsument. Ich bin nicht Teil von ihr.
Ich schreibe nicht besser, wenn ich dazugehöre, und nicht besser, wenn ich nicht dazugehöre. Also spare ich mir die Zeit.
B: Die Literatur zum Reisen wird von manchen mit esoterischem Positivitätswahn überrollt – dein selbst gewählter Feind ist ja Paolo Coelho. Auch die sozialen Medien orientieren sich oft an einer geschönten Darstellung des eigenen Lebens. Ist das unendliche Glücklichsein wirklich so erstrebenswert?
A: Klug beobachtet. Ich denke, man darf einen Teil der Menschheit ruhig abschreiben, da deren unbedingter Wille, sich das Leben vollzulügen, unheilbar ist. Dazu gehört auch das religiöse Brimborium, das Heilung und ewige Glückseligkeit – wie schauerlich die Aussicht – verspricht. Glück empfinden ist etwas Hinreißendes, doch um es empfinden zu können, braucht der Mensch die Kehrseite: Einsamkeit, Widerstand, Tiefpunkte, Trauer, Wunden, Herausforderungen, zäh sein. Sie sind die Voraussetzung.