The Balkan Project
Eine Vorspeise zum zeitgenössischen Hauptgericht des viel Komplexität versprechenden WIEN MODERN Festivals. Eine musikalische Reise mit dem Ergon Ensemble zwischen Wien und Athen, mit Musik von sechs Komponistinnen.
Schnelles Klischee-Brainstorming zum Balkan... ehm, Balkankrieg, Balkanroute... Nationalismus, Genozid... Korruption, Armut, Alkohol! Diese schwer genau einzugrenzende Region, die dem Gefühl nach irgendwie aus der Zeit gefallen ist, profitiert in unseren Breiten nicht gerade von einem guten Image oder einer positiven Berichterstattung. Ah, hab‘ Balkanpop-Legende Goran Bregovic vergessen, der unlängst wieder in Wien war... Aber in Zeiten wie diesen kann man sogar den nicht mehr wirklich genießen.
Darf ich vorstellen? Das Balkanprojekt
Doch hier geht es um einen anderen Balkan: einen aufgeschlossenen, kritischen und weiblichen, denn mit seinem bereits einige Jahre laufenden »Balkan Project«, stellte das Athener Ergon Ensemble auch bei seinem Konzerthaus-Debüt gestern Werke von sechs hochaktuellen und international erfolgreichen Komponistinnen aus der Türkei, Kroatien, Serbien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland vor.
Im Mittelpunkt dieses Projektes steht die Frage nach der räumlichen und zeitlichen Kontinuität des Balkans und inwiefern diese auch in Neuer Musik erkennbar wird. Zentral ist hierbei das Konzept von Tradition, das sich zum einen natürlich auf den kulturellen Hintergrund, der heute mehrheitlich in Deutschland und Wien lebenden Komponistinnen bezieht, zum anderen aber viel wichtiger auf ihre Positionen in der zeitgenössischen Musik selbst; denn hier stehen alle sechs im Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Wandel, zwischen Tradition und Moderne.
Alle Erwartungen hoch übertroffen
Ein bisschen bange war mir schon, als ich mich Stufe für Stufe in das Kellergewölbe des Konzerthauses in Richtung Berio-Saal vortastete. Denn meine wenigen Berührungspunkte mit zeitgenössischer Musik waren von mir bisher, nun ja, von der Haltung her eher abgetan worden (will ich auch nicht verheimlichen). Zu oft werden gegenwärtige Stücke als „Rahmenprogramm“ ohne Kontextualisierung vor das „eigentliche“ Programm eines Abends gestellt, und das funktioniert halt leider selten. Zumindest für mich ist es bei aktueller Kunst unabdinglich, dass Stücke und Werke erklärt und in Kontext gesetzt werden!
Gestern war das alles anders, denn das Projekt wurde dem Publikum als reife Frucht präsentiert, das Programmheft lieferte die nötigen Informationen, die Werke verstehen und einordnen zu können, und die Musik... war einfach genial! Allen, die im November in Wien sind, kann ich nur raten: besucht das Wien Modern Festival.
Die recht kurzen Stücke der Komponistinnen Zeynep Gedizlioğlu, Mirela Ivičević, Milica Djordjević, Diana Rotaru, Alexandra Karastoyanova-Hermentin und Georgia Koumará können unterschiedlicher und abwechslungsreicher nicht sein und dennoch gibt es thematische Überschneidungen zwischen ihnen. So arbeiten Rotaru und Karastoyanova-Hermentin in ihren Stücken viel mit Wiederholungen und dem klanglichen Wiedererkennen; bei Gedizlioğlu, Djordjević und Koumara werden die Werke zuerst positioniert, es wird eine klangliche Basis erschaffen, bevor sich Klänge entfalten und emporsteigen können. Bei Koumaràs „Vagari“ (2016) z.B. steht zu Beginn eine Art zeitloses Ursummen, aus dem sich langsam einzelne Instrumente schrill herausschälen.
Rollenverteilungen hinterfragt
In Ivičević ästethischer Zielsetzung geht es viel um das Durchbrechen von Tabus. In Fear. Less. Songs (2016), dem zweiten Stück des gestrigen Abends, hinterfragt sie die hierarchisiert-starre Rollenverteilung der Instrumente in gängigen Konstellationen. Durch die kurz-abgesetzten Einheiten ihrer sehr intensiven Komposition hindurch wechseln Klavier, Cello und Geige immer wieder ihre Funktionen, mal zupft das Klavier, mal klopft das Cello.
In ihrem Stück Verde (2015/2017), versucht Diana Rotaru den tranceartigen Zustand zwischen Wachsein und Schlaf wiederzugeben. Diesen für mich wallenden und kreisenden Schwebezustand hätte sie mit einer Mischung aus Plätschern, Klopfen, geschmierten Glissandi und Obertönen besser nicht reproduzieren können. Die Stimmung intensiviert sich, kulminiert in einer gemeinsamen, rhythmischen Sequenz, bevor das Stück ähnlich endet, wie es begann. In dieser Komposition wird auch der erste Vers der Romance sonàmbulo von Garcia Lorca immer wieder durch den Cellisten zitiert, der ebenfalls eine Reibtrommel betätigt und dem nach Verklingen der letzten Töne viel Beifall, auch durch die anwesende Komponistin, beikam.
Großen Applaus haben die Musiker des Ergon Ensembles insgesamt verdient, die zum einen technische Meisterleistungen vollbrachten und zum anderen mit extremer Konzentration dafür zu sorgen vermochten, dass die Spannung auch in durchwegs langsamen Stücken (Djordjević) nicht abbrach. Dies wurde vom Publikum entsprechend wertgeschätzt. Und so bleibt als Nachhall von diesem Abend ein sehr positives Bild vom Balkan.