Gänsehautmomente im Park und am Kanal
Musik, die zum improvisierten Tango in Flip-Flops animierte - Drei Pop-Up-Konzerte des Wiener Konzerthauses brachten die Songs von Marie Spaemann und Christian Bakanic ans Fortgehvolk am Donaukanal.
Auf der sonnigen Wiese des Sigmund-Freud-Parks genossen verkaterte Student*innen ihre Konterbiere. Sie interessierten sich mehr fürs Kartenspielen als für das große Lastenrad, aus dem, wie Flügeltüren eines Sportwagens, eine kleine Bühne aufgeklappt wurde. Bald mischten sich zum Rascheln der blühenden Linden feine Akkordeonläufe von Christian Bakanic und nach Vorfreude schmeckenden Celloquinten von Marie Spaemann.
Nachmittagstango im Freud-Park
Als das Duo zu spielen begann, wurde der Schattenhalbkreis vor ihnen bald gefüllt. Ein langhaariger Mann legte sich neben sein Fahrrad und machte zufrieden seine Augen zu, ein Baby erforschte auf einer Decke die Handtasche seiner Mutter, die gespannt zuhörte. Der dreijährige Bakanic Junior, Protagonist des ersten Songs Oscar’s Dream, machte keine Anstalten, in Träumen zu versinken, sondern rannte fröhlich herum.
Als Nächstes poppte die VeloStage am Kanal bei der Salztorbrücke auf. Der Wind wehte hier stärker durch die Platanen und verlieh dem eröffnenden Akkordeontremolo noch mehr Dramatik. Während Bakanics Finger auf den Tasten tanzten, improvisierte ein Pärchen in Flip-Flops und Bergschuhen eine Tangoeinlage. Ein fescher Radler machte erst zwei Runden und setzte sich dann zu uns, eine Zweijährige im rosa Kleidchen tanzte und klatschte fröhlich mit. Bakanic erinnerte daran, dass jetzt nicht mehr Beethovenjahr sei, sondern... Bob-Marley-Jahr, brummte ein kleiner Herr mit E-Roller neben mir. Gemeint war aber Piazzolla; während eine seiner Etüden erklang, schrumpfte der Kanalradweg vor lauten Zuschauer*innen zu einem schmalen Pfad.
Die Wand weiß Bescheid: „All Disco Dancing Must End in Tears”
Die im Song Metamorphosis auf ihren Kontinent blickende Göttin Europa wäre sicher glücklich gewesen beim Anblick der Gruppe glücklicher Menschen, die Spaemann dabei zusahen, wie sie ihr ganzes Cello bis hin zum Stachel perkussiv bespielte. Nach ausgiebigem Jubel befolgte das Duo mit einem arabisch-israelischen Song als zweite Zugabe ein Graffito an der Wand: „All Disco Dancing Must End in Tears“.
„Krass, hier gibt’s jetzt ein Konzert“, bemerkte ein schick gegelter Fortgeher beim letzten Konzert am Fuß der Marienbrücke, während die fürs letzte Tageslicht zu stark geschminkten Partygeher*innen die Uferkante bevölkerten. Bei einer besonders bewegenden Stelle stockte eine Frauenhand mit langen Plastiknägeln beim Öffnen einer Marlboroschachtel, kurz später zeigte die junge Frau ihrer Freundin erstaunt ihren volltätowierten Arm, den die Musik mit Gänsehaut übersäte. Die emotionale Musik traf den Nerv des Abends und das Publikum klatschte trotz des plötzlichen Nieselns, das uns die Zugaben raubte.
Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit dem Wiener Konzerthaus.