Russisch, genial, o-lastig
Was die galaktischen Pianisten Grigory Sokolov und Arcadi Volodos trennt und verbindet – Doppelkritik inklusive Statement des gemeinsamen Agenten, versteckten Message Sokolovs an Volodos und Details aus meiner Begegnung mit Sokolov.
Arcadi Volodos lief wie ein Sumokämpfer auf die Bühne. Nein, nein, so beleibt ist er nicht. Aber aus ihm strahlte eine ruhige Sumo-Kraft. Der Saal war ungewöhnlich dunkel, nur der Flügel war ausgeleuchtet. In diesen Heiligenschein setzte Volodos den choralartigen Anfang der Schubertsonate D. 894, wir huldigten in diesem musikalischen Gottesdienst dem Prediger auf der Bühne. Der eigentliche Grund für die Trance, in die er uns ab dem ersten Ton versetzte, war aber sein Anschlag. So samtig, so gleichmäßig weich, als wären die Hämmer des Flügels mit einer Extraschicht Watte versehen. Kein Tönchen stach heraus, es war als spiele er auf einem alten Bösendorfer. Macht Sinn, dachte ich, laut Wikipedia spielt er nämlich auf einem 20-jährigen Steinway.
D. 894 ist Sviatoslav Richters Lieblingssonate von Schubert. Kein Wunder, sie ist ganz wie dieser geniale Sonderling: introvertiert, nachdenklich und voller bodenlos tiefer Emotionen. Volodos‘ mystisch-weiche Interpretation passte gut zu diesem Charakter. An eine Sache musste man sich gewöhnen: In der Tradition der Klavierschule des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielten seine Hände leicht versetzt. Während András Schiff predigt, der Bass müsse zuerst das Fundament legen, führte bei Volodos die rechte Hand.
It is his hands
Auch Brahms‘ späten Klavierstücke Op. 118 wurden durch Volodos‘ otherwordly Anschlag veredelt, im Anschluss gab der Maestro ganze fünf Zugaben. Mein Highlight: Mompous El Lago, passte zum Sommerwetter. Nach dem letzten Applaus sammelte ich alle meine Eier und sprach den kleinen eleganten Herren an, der neben mir in der fußfreien VIP-Reihe saß. Ob er denn nicht der Agent von Volodos sei. Er stutzte kurz, bejahte meine Frage aber. Ich nutzte die Gelegenheit, fragte nach dem Flügel und wurde ordentlich überrascht: Es war der gewöhnliche Flügel vom Konzerthaus. Plötzlich erschien auch der Klavierstimmer und meinte auf meine Frage, was er denn mit dem Flügel angestellt hätte: It is his hands. Und was für Hände!
Erst beim Googeln in der Bim realisierte ich, dass der kleine Signore Franco Panozzo war, der zugleich auch Grigory Sokolovs Agent ist, seit 30 Jahren. Die beiden Sonderkünstler verbindet noch viel mehr. Sie sind beide aus Leningrad und wurden (zumindest zum Teil) zu Sowjetzeiten ausgebildet. Sie setzen beide auf ungewöhnlich dunkle Säle (wobei Sokolov gefühlt noch weniger Licht zuließ) und geben beide jede Menge Zugaben. Und spielten Back to Back an zwei Abenden hintereinander im Konzerthaus.
Ein Orientierungssinn, der auch der Musik zugutekommt
Dass es der gleiche Flügel war, den Sokolov gestern bespielte, war wirklich kaum zu fassen. Sokolovs Klang ist ein ganz anderer. Heller, schärfer, durchsichtiger. Er ist mittlerweile 71, ein kleiner Mann mit weißen Haaren und einem großen Frack. Sitzt er am Klavier, verliert er aber plötzlich zwei Jahrzehnte. Sokolov ist ein außerordentlicher Mensch. Man sagt, er würde sich alle Seriennummern der Steinways merken, auf denen er je gespielt hat und dass er immer merke, wenn eine Fahrer*in einen zu langen Weg nimmt.
Ich hatte die Ehre, ihn vor zwei Jahren zu fahren; er merkte sofort an, als ich vor dem Kurhaus in Wiesbaden durch einen Weg fuhr, der etwas nach Einfahrverbot roch. In seinem Spiel zeigte er genau das gleiche unfassbare Orientierungsgefühl. Er wusste bei jedem Bogen, bei jeder Wendung genau, wo die Reise hinging. Die vier Chopin-Polonaisen vor der Pause spielte er in einer Vollendung, die ich gar nicht erst zu beschreiben versuchen werde.
Gesang am Klavier
Nach der Pause hörte man in Rachmaninoffs zehn Préludes Op 23. hin und wieder die russische Klavierschule raus, wenn er in schnellen Läufen kaum merkbar jede Note leicht betonte. Auf einem galaktisch hohen Niveau könnte man darüber meckern, dass er in langen Fortepassagen ein klein wenig zu viel Pedal nahm und somit etwas an Klarheit einbüßte. Ansonsten hielt er sein geniales Niveau. Besonders innig war das vierte Prélude: Inmitten butterweicher Begleitfiguren erschien hier eine Melodie, bei der man völlig vergaß, dass das Klavier ein Schlaginstrument ist. Nr. 5, wohl das Berühmteste, habe ich schon so oft in der Version von Emil Gilels gehört, dass ich von Sokolov zunächst nicht ganz befriedigt wurde. Als die Musik in der Reprise in immer neuen Wellen angriff, gab ich aber das letzte bisschen Skepsis auf, zu perfekt dosierte der Maestro das Drängen.
Zum Schluss dann das Zugabentheater. Alle wissen, dass Sokolov sechs Stücke spielt, selten weniger und nie mehr. Trotzdem ließ er sich deutlich mehr bitten als Volodos am Vorabend. Als er mit dem ersten Stück anfing bekam ich einen Lachanfall: Er spielte das zweite der sechs Stücke Op. 118 von Brahms, das Volodos in seinem Programm hatte. War das ein kleiner Wink à la „Brahms gehört nicht dir allein мой дорогой Аркаша“?
Ein kleiner Gruß an den lieben Arkascha in den Zugaben
Als er direkt im Anschluss noch einmal aus Op. 118 spielte, war ich mir jedenfalls sicher, dass das ein Zwinkern Richtung seines Kollegen war. Auch Sokolov streute eine Skrjabin-Prélude ein: Er spielte sie so fein, so zierlich, dass danach der Applaus in den Ohren wehtat. Nach dem abschließenden Busoni-Bach (ein Original wäre mir lieber gewesen) verpassten wir dank der Zugabenfülle den Anpfiff um neun. Aber viel zu sehen gab es da scheinbar sowieso nicht...
Kleine Zugabe von mir: Vor zwei Jahren fragte ich ihn auf der regnerischen Autobahn, warum er denn gerade sechs Zugaben spiele. Er erläuterte mir in einem exzellenten Deutsch, dass die Menschen immer mehr verlangt hätten, irgendwann hätte er seiner eigenen Gutmütigkeit eine Grenze setzen müssen und habe sich auf sechs Stücke festgelegt. Dieser Mann ist eine Institution, falls Du ihn noch nie gehört haben solltest: Am 8. Dezember kommt er wieder, wieder mit Rachmaninoff und einer neuen zweiten Programmhälfte. Ich werde da sein.