Genies gabs gestern
Uns ist der morgen: Weg mit dem Ego, weg mit dem Patriachat, her mit dem Kollektiv. Kreative Anarchie statt altem Genie-Kult!
Wenn heute mit der jüngeren Generation von Theatermacher*innen gesprochen wird, oder diese interviewt werden, reden sie oft von einem „wir“, das weit entfernt vom normativen „ich“ positioniert ist. Aber wer ist dieses „wir“ eigentlich genau und warum gibt es eine Tendenz zu weniger „ichs“ in der Kunst?
Wer ist wir?
Ein Blick zurück zeigt, dass bereits im Mittelalter Schreibprozesse üblicherweise gemeinschaftlich gestaltet wurden. Bis zum 18. Jahrhundert beteiligten sich mehrere Personen gleichberechtigt am schriftlichen Prozess eines Buches, der Schriftsteller war lediglich Teil eines Kollektivs. Erst mit dem Aufkommen des bürgerlichen Zeitalters wurde die Vorherrschaft der individuellen Autorschaft etabliert. Dabei wird der Autor als der alleinige Schöpfer eines einzigartigen und vollkommenen Kunstwerks betrachtet, über das er vollständige Kontrolle und künstlerische Autorität ausübt. In diesem Zusammenhang prägte die Genie-Ästhetik gegen Ende des 18. Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Vorstellung vom individuellen, kreativen, souveränen und männlichen Autor als Zentrum des Kunstverständnisses. Seit der Moderne gerät der traditionelle Kunstwerkbegriff und die damit verbundene Autoritätsinstanz des Autors ästhetisch ins Wanken. Unbestreitbar ist jedoch, dass Autor*innen auch heute noch eine zentrale Rolle in der literarischen und literaturwissenschaftlichen Praxis spielen.
Vom Dichter zum Regisseur
Im Theater liegt diese künstlerische Leitung bei den Regisseur*innen. Obwohl sich das Theater in der Theatermoderne von der Autorität literarischer Texte löste, bedeutete dies keine Abschaffung der Autorität des Autors, sondern vielmehr eine Übertragung dieser Autorität vom Dichter auf den Regisseur. Im modernen Regietheater fungieren Regisseur*innen als eine individuelle, schöpferische und künstlerische Autorität innerhalb einer Inszenierung.
Das Neue Wir
Angesichts der fortwährenden Verankerung im bürgerlichen Konzept des Kunstwerks versuchen seit den späten 90er Jahren kollektiv arbeitende Gruppen die traditionellen Formen der Autorschaft und Regie zu unterlaufen. Ihr Ziel besteht darin, die damit verbundenen Mechanismen und Wirkungsweisen der Repräsentation zu hinterfragen. Im Zentrum steht die Entwicklung kollektiver Methoden in der Textproduktion und Inszenierung, die eine Abkehr von hierarchischen Machtstrukturen und etablierten Theaterformen anstreben. In dieser Herangehensweise ist Kollektivität geprägt von der gemeinschaftlichen Erarbeitung zeitgenössischer szenischer Texte. Die Stücke entstehen durch einen Austausch, kollektive ethnografische Recherchen, Diskussionen und Improvisationen während der Probenphase oder sogar während der Aufführung unter Einbindung des Publikums. Oftmals werden auch Alltagsexpert*innen, das heißt nicht-professionelle Beteiligte, in den kreativen Prozess einbezogen, wodurch das Theater eine soziale Öffnung erfährt. Die Vielstimmigkeit bietet ein wichtiges Fundament, niemals soll ÜBER, sondern nur MIT anderen Theater entstehen. Auch ohne fixierte Arbeitsteilung ist es dennoch üblich, dass Gruppen in gleicher Zusammensetzung arbeiten, dabei aber nicht als geschlossene Einheit zu betrachten sind, externe Perspektiven werden, wie bereits erwähnt, immer wieder integriert.
Der Kontext ist alles
Arbeitsmethoden und Aufführungen sind kontinuierlich, prozesshaft und als dynamische Praxis zu verstehen. Die Stücke existieren nicht unabhängig von ihrem szenischen Kontext und verlieren außerhalb der Aufführung ihre Gültigkeit. Die Gebundenheit des Textes an die Aufführung schließt seine Autonomie als eigenständiges Werk aus. Dadurch, dass ein Stück mit der Premiere als nicht abgeschlossen gilt, wird der Werkcharakter aufgelöst. Schreiben wird somit zu einem kollektiven, öffentlichen und offenen Prozess des Entdeckens, Erfindens, Anbietens, Modifizierens und Bearbeitens, abseits von individuellem schöpferischem Handeln. Diese Art der Theaterproduktion wird dabei stetig auf der Bühne mit inszeniert und damit für Außenstehende sichtbar gemacht. Eine individuelle Autor*innenschaft wird im doppelten Sinn sowohl in Bezug auf einzelne Texte als auch hinsichtlich der künstlerischen Autorität der Inszenierung verabschiedet.
Weibliche Kollektive gegen patriachale Strukturen
Auffällig ist, dass seit Ende der 90er Jahre vermehrt Frauen Kollektive bilden und innovative Methoden der Textproduktion entwickeln. Die gegenwärtige Vorstellung von Autor(*innen)schaft, Kunst und Regie ist nach wie vor stark von männlichen Konzepten geprägt, in der Praxis sind diese Rollen größtenteils von Männern besetzt, besonders in leitende Positionen ist das männliche Geschlecht stark dominierend. In den Theaterinstitutionen sind Arbeitsteilungen und Hierarchien oft durch geschlechtsspezifische und heteronormative Bilder geprägt, die die Figur des männlichen Künstlers und seine Position verstärken. Noch immer stellen Frauen die dominierende Mehrheit in den kollektiven Arbeitsgruppen zeitgenössischer Theaterensembles dar. Mit ihrer Arbeit entwerfen sie Strategien, die der traditionellen Konzeption männlicher Autorschaft und den damit verbundenen Machtstrukturen und Diskriminierungen entgegenwirken. Oft identifizieren sie sich daher mit feministischen Ansätzen, zumal sie nach Wegen suchen, patriarchal geprägte Produktionsprozesse zu umgehen, diverse Perspektiven zu ermöglichen und strukturelle Machtstrukturen zu hinterfragen. In den temporär entworfenen Räumen ist es möglich, gleichzeitig Subjekt und Objekt der Darstellung zu sein und so festgefahrene Rollenverteilungen zu dekonstruieren. Das Hauptziel der Projekte besteht darin, Inszenierungen in einem Umfeld mit möglichst flachen Hierarchien zu gestalten und Zuschauende dazu zu bewegen, gesellschaftliche Probleme selbst zu interpretieren. Anstelle der individuellen Autorschaft erfolgt eine Erprobung von Arbeitsformen, die nicht auf den autonomen, männlich konzipierten Individuen als künstlerisches Ideal basieren. Trotz der Bemühungen, gegen diese Tendenz anzukämpfen, neigen Texte immer noch dazu, meist einer männlichen Person zugeschrieben zu werden, selbst wenn sie im Kollektiv entstanden sind.