Gesagtes und ungesagt Gebliebenes

Das Gerichtsdrama Sie sagt. Er sagt in den Kammerspielen ist mit Fragen der Glaubwürdigkeit im Patriarchat stets aktuell und sorgt für hitzige Diskussionen im Publikum.

Sie sagt

Mit Sie sagt. Er sagt wird das dritte Ferdinand von Schirach-Stück auf die Bühne der Kammerspiele der Josefstadt gebracht. Nach Terror und Gott handelt es sich erneut um ein stets aktuelles Thema: Ein Gerichtsprozess in Folge einer Vergewaltigungsanzeige. Sandra Cerviks Inszenierung ist subtil und minimalistisch, überlässt dem Spiel der Künstler*innen auf der Bühne und dem starken Text des Autors buchstäblich die Bühne. Protagonistin Katharina, ergreifend gespielt von Silvia Meisterle, wirft ihrem Ex-Geliebtem vor, sie vergewaltigt zu haben. Es kommt zum Prozess. Die emotionalisierende Aussage der Betroffenen eröffnet den Abend und erntet bereits viele kopfschüttelnde Reaktionen – vor allem der jungen FLINTAs im Publikum. Wo endet Konsens und wo beginnt eine Vergewaltigung? Und vor allem: Wer entscheidet darüber, was mit dem Körper einer Frau gemacht werden darf und was nicht?

Sie sagen

In den Zeug*innenstand werden neben einer Freundin der Klägerin und einem Passanten Expertinnen gebeten: Eine psychologische Sachverständige, eine Rechtsmedizinerin und eine Kriminalhauptkommissarin – allesamt Frauen. Die psychologische Sachverständige, gespielt von Susa Meyer, öffnet nicht nur den Personen im Gerichtssaal, sondern auch dem Publikum die Augen, in dem sie einige Stereotype, auch „Vergewaltigungsmythen“ anspricht und vor allem ausspricht, was in einer so detaillierten und unzensierten Form aufklärend und lehrreich ist, aber auch verstörend. Was prägt unsere Vorstellung davon, wie eine Vergewaltigung auszusehen hat? Was macht glaubwürdige und unglaubwürdige Aussagen aus?

Die hässliche Realität derjenigen Frauen, die vor Gericht bis ins kleinste Detail beschreiben müssen, was gegen ihren Willen mit ihren Körpern gemacht wurde, ist erschreckend und weckt das Gefühl von Ungerechtigkeit, Wut und Verzweiflung über das patriarchale System, in dem wir leben, erhält aber auf einer solch repräsentativen Bühne genau aus diesen Gründen kämpferisches, diskurseröffnendes Potenzial. Auch der Anwalt der Klägerin, gespielt von Publikumsliebling Joseph Lorenz und die Anwältin des Angeklagten, dargeboten von Martina Stilp, sind besonders hervorzuheben. Nicht nur verteidigt hier ein Mann eine betroffene Frau und eine Frau einen möglichen Vergewaltiger – die beiden liefern sich einen regelrechten Feuerkampf, in dem niemand gewinnen kann. Es fällt auf, wie nahe doch der Beruf der Anwält*innen dem der Schauspielenden ist, besonders beim Schlussmonolog, äh… Verzeihung; Schlussplädoyer.

Er sagt (nicht?)

Der Angeklagte (Ulrich Reinthaller/Herbert Föttinger) schweigt bis zur letzten Szene und meldet sich erst zu Wort, als es niemand mehr erwartet. Somit steht es zum Schluss doch noch Aussage gegen Aussage – eine Ausgangslage, die oft zu verheerenden Entscheidungen führt – nämlich „im Zweifel für den Angeklagten“.

Wir sagen

Nicht nur einmal wurde an Stellen gelacht, die ganz und gar nicht lustig waren, was vor allem die jungen Frauen im Theatersaal stutzig gemacht hat. Dieser Theaterabend polarisiert und stellt eine (An-)Spannung her, die in der pausenlosen Vorstellungszeit zu überkochen droht.

Man sagt

„In Österreich hat jede 5. Frau (das heißt 20 Prozent der Frauen) seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. 15 Prozent der Frauen haben seit ihrem 15. Lebensjahr Stalking erlebt. Jede 3. Frau (exakt 35 Prozent) hat seit ihrem 15. Lebensjahr eine Form der sexuellen Belästigung erlebt. Psychische Gewalt durch ihren (Ex-)Partner haben 38 Prozent der Frauen seit ihrem 15. Lebensjahr erlebt.“ (Quelle)

Sexualisierte Gewalt ist mit einer starken gesellschaftlichen Stigmatisierung verbunden, welche es noch immer schwer macht, das Thema zu enttabuisieren und in den allgemeinen Diskurs zu bringen. Wenn Gewalt erfahren wird, darf es nicht um Glauben oder Nicht-Glauben gehen, sondern um Schutz und Sicherheit, um die Gewissheit, im Rechtssystem auf Unterstützung zu treffen. Wie die Zahlen zeigen, handelt es sich bei Sie sagt. Er sagt keinesfalls um ein Nischenthema, sondern, leider, um eines, welches viele, meist weibliche Personen jeden Tag betrifft. Die Wut, die Verzweiflung und die Verständnislosigkeit des Publikums sind Katalysatoren für Diskussionen, welche das Thema vorantreiben.

Die Entscheidung des Gerichtsprozesses wird nicht dargestellt, was dazu führt, dass nach der Vorstellung in der Warteschlange zur Garderobe besprochen wird, wem nun mehr geglaubt werden kann. Man ist unzufrieden mit dem offenen Ende und rätselt, wie es denn nun außerhalb der Bühne weitergegangen wäre. Dies macht den Abend jedoch keinesfalls weniger vollständig: Nein, genau diese Ungewissheit, das im Stich gelassen werden und sich stets weiter erklären und verteidigen müssen – als Anklägerin – prägen die Erfahrungen von Betroffenen in unserem Rechtssystem maßgeblich und dürfen auch hier nicht fehlen. Theater muss nicht immer angenehm sein. Theater muss nicht entspannen. Manchmal muss Theater mit dem Finger auf Missstände zeigen und emotionalisieren, um zu verändern - was in Sie sagt. Er sagt mehr als gelungen ist.

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