Radrage: Grosze Klappe 2

Wie der Premierminister eines Nachbarlandes meinen Tag versaut hat (nein, nicht Orbán). Außerdem: Ein Film, den du sicher nicht schauen würdest, aber solltest und ein stadienfüllender Superstar, den niemand kennt.

Klappe die 2 /// Alexandra Timofeeva (c)

Goddamit, die Kroaten! Ich stand stinksauer an der ewigroten Ampel. Bevor du jetzt die Augen verdrehst und weiterklickst: Ich bin viel zu heimatlos, um ein banaler Rassist zu sein. Eigentlich war ich auch nicht auf DIE Kroaten böse, die gibt es ja auch nicht. Genauso wenig, wie es DIE Juden oder DIE Deutschen. Ist nicht jeder Satz, der mit „die Deutschen“ beginnt, irgendwo rassistisch? Ich war einfach pissed als ein jovialer Verkehrspolizist meine geliebt gewohnte Ampelschaltung am Ring für die Staatskarosse von Premierminister Andrej Plenković, zerstörte. Die Ampel blieb rot und war auch noch auf dem Rückweg Stunden später anders getaktet im Vergleich zu der davor. Der kleine Mann muss wieder einmal leiden für das schöne Leben von denen da oben.

Babler, wo bist du, wenn man dich wirklich braucht?

Wir Radfahrer*innen sind Fluchttiere, ängstliche Gazellen, unsere einzige Waffe ist die Flinkheit. Na gut, und die Klingel, mit der wir Touris erschrecken, falls sie sich auf einen Radweg verirren. Aber sonst sind wir ganz unten auf der urbanen Nahrungskette. Von hinten droht ständig irgendein wildgewordener E-Scooter, die Polizei oder ein Monster-SUV. Die einen wollen einen überholen, was meine Restmännlichkeit stört, die anderen machen uns platt, wo es nur geht. Außerdem muss man ja schnell fahren, weil es sich nur dann gelohnt hat, nicht mit den Öffis unterwegs zu sein. Wenn ich schon schneller sein kann als die U-Bahn, dann muss ich das auch sein.

Letztens habe ich kurz ausprobiert, gemütlich zu fahren. Wie fein das war! Entspannt im Sonnenschein dahingleiten, fast fliegen, die Luft genießen. So schön könnte das Leben sein, wenn ich nur ein wenig entspannen könnte… Geht aber nicht, ich rase. Trete in die Pedale, bis ich schwitzend, fertig aber on time ankomme (oder irgendwann draufgehe).

In dieser ewigen Flucht nach vorne sind gewohnte Ampelschaltungen die einzigen Ruhefaktoren. Nur wenn ich weiß, dass ich die nächste Grünphase auch mit Vollgas nicht erreiche, nur dann bekomme ich von meinem inneren Drängler eine Verschnaufpause.

Stand with Croatia

Es ist mir schon früher mal passiert, dass die sonst zuverlässige Ampel plötzlich wagte, anders getaktet zu sein. Aber das war das erste Mal, dass ich mitansehen musste, wie die Ordnung meines kleinen Lebens von einem jovialen Verkehrspolizisten direkt vor meiner Nase zerstört wurde, nur damit irgendein Andrej pünktlich zum Mittagessen mit Nehammer ankam. Das tat weh und hat aus mich fast einen Kroatenhasser gemacht. Weil mit erhitztem Fahrradgemüt hasst man ganz schnell irgendwelche Leute. Jetzt fahr doch, a k*rva büdös anyádat (wenn es ernst ist, fluche ich auf Ungarisch)! Deswegen überrascht es mich, dass Rechtspopulist*innen so selten Rad fahren, das ist doch voll deren Gefühlswelt. Oder vielleicht wählen Radfahrer*innen deswegen eher links, weil sie sich schon unterwegs ausgehatet haben…

À propos Rechts-Links-Spaltung. Mein Kulturtipp ist wieder ein Film, diesmal keine nebensächliche Blockbuster-Empfehlung, sondern wirklich ein Must See. Explanation for Everything von Gábor Reisz taugt als Explanation tatsächlich sehr gut, nämlich dafür, warum die (ungarische) Gesellschaft so zerrissen ist. Ist dabei sehr feinfühlig, menschlich und gibt auch in die Seele der rechten Seite Einblick, ohne zu verurteilend zu sein. Das Ergebnis ist packend, tragisch und poetisch, ich habe geheult. Der Film gefiel auch anderen, gewann beim Filmfestival in Venedig und hat auf Rotten Tomatoes stolze 100%. Bei der Viennale war er der Eröffnungsfilm, in der Anmoderation wurde versprochen, dass er auch regulär in die Kinos kommt.

Ein unbekannter Superstar

Und wenn wir schon bei Ungarn sind, empfehle ich diesmal einen ungarischen Song: Azahriah ist ein 21-jähriger Superstar. Der Dude hat gerade drei Konzerte im größten Stadion des Landes ausverkauft (da gehen fast 70 000 Leute rein…), soetwas gab es in Ungarn noch nie. Dabei ist er Orbán-kritisch, schreibt seine Musik offensichtlich selbst und kommt in Interviews ganz nett und bescheiden rüber. Es muss irgendwie weird sein, in einem kleinen Land der größte Superstar ever zu sein. Jetzt versucht er, auch international etwas zu erreichen, sein Konzert in Wien am 2. November ist jedenfalls ausverkauft.

Klingt das nicht sehr nach Osteuropa? Diese angedeutete Balkanbrass-Begleitung ist ja vielleicht ironisch gemeint, aber die Gesangsverzierungen mit dieser hohen Stimme klingen schon fast wie türkischer Pop. In Ungarn denkt man übrigens, nicht zu Ost- sondern zu Zentraleuropa zu gehören. Ha…

PS: Diesmal habe ich mit vollem Magen nach dem Frühstück geschrieben. Ich finde, man merkt’s, die letzte Ausgabe gefiel mir besser…




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