Viennale ‘23: Logbuch

Kurzeindrücke, Gedanken und Skizzen von der Viennale - regelmäßig aktualisiert.

(c) Alexandra Timofevaa


30.10.: Die Theorie von allem

Als 2. Teil einer angehenden Trilogie stellt Timm Kröger in Die Theorie von allem die Frage nach der Realität und dem Schicksal und ob es denn nur ein Ende einer Geschichte geben kann. Im Stil des Film Noir, wird man in das Setting eines Physiker-Kongresses in den Schweizer Alpen der Nachkriegszeit entführt.

Am Weg dorthin versteht man bereits die Dynamik des Physik-Studenten Johannes Leinert und seinem Doktorvater.  Dieser hält nicht allzu viel von diesen alternativen Denkmustern Johannes‘ – der Möglichkeit, dass es optionale Realitäten zu der unsrigen gibt.
Als Johannes in einem Sturm Karin, die junge Pianistin ihres Kongress-Hotels‘ kennenlernt, ergeben sich immer mehr merkwürdige Geschehnisse rundum die Beiden. Während die junge Frau ihm sehr bekannt erscheint, wirkt sie bereits überraschend viel über ihn zu wissen. Als er versucht dem auf den Grund zu gehen ergeben sich immer größere Fragen, allen voran, welche Rolle er und seine Bekanntschaft in dem Rätsel spielen.

Mit schwer tragender und dramatischer Musik gewinnen die sehr reduziert gespielten Szenen an starken Emotionen. Diese Ernsthaftigkeit, die Timm Kröger somit erschafft, gleicht er gekonnt mit der nötigen Brise Humor wieder aus, indem er die Zusehenden nicht vergessen lässt, dass der Film in der Nachkriegszeit spielt.

Abschließend lässt sich sagen, dass man mit der gelungenen Frage nach der Wahrheit und der wichtigen Rolle der Paranoia gespannt bleiben kann auf die Fortsetzung einer Welt, die man nie vollständig verstehen kann und vielleicht auch nicht soll.

(Lena)


 

(c) Viennale

29.10.: La Chimera

Mit malerischen Szenerien und Bildformatwechseln schafft Alice Rohrwacher ein träumerisches Gleichnis zu mythologischen Sagen, wo man den Protagonisten zwar nicht immer versteht, aber dennoch mit ihm mitfühlt.
In der Geschichte über Arthur, der Teil einer Grabräuber-Bande ist, steigt man direkt in die 80er Jahre und ein Leben weit weg von den großen Städten ein. Die Bande lebt davon, alte Gräber auszuräumen, Arthur hat dafür die perfekte Gabe – er spürt das Alte und Tote um sich. Ob das durch seine verstorbene große Liebe entstand oder schon immer Teil von ihm ist, bleibt unbeantwortet.

Während sich der Hauptstrang der Geschichte darum dreht, dass die Bande rundum ihren Heimatort Gräber findet und die Funde an unbekannte, reiche Persönlichkeiten verkauft, um ihr Überleben zu sichern, sucht Arthur seinen Platz in der Welt. Einerseits trauert er seiner alten großen Liebe hinterher, andererseits trifft er jemand Neues und es ist klar, er sucht Heimat in diesen Personen. Wo er sie finden wird bleibt dabei nur eine offene Frage.

Von Operngesang, rhythmischen Klängen und neapolitanischer Musik getragen, steigt man in den Mythos der Etrusker und deren Schätze ein. Und man lebt mit Arthur in seiner Welt, die nicht ganz real, aber auch nicht ganz unecht erscheint.

(Lena)


27.10.: Liebe, Affekt, Nahaufnahme: L’Ete Dernier und All of us Strangers

Die Nahaufnahme gilt (galt) als Herzstück des Kinos: Gesichter näher, größer sehen können als sonst möglich – „wenn sich in der Großaufnahme ein Gesicht auf die ganze Bildfläche ausbreitet, wird für Minuten das Gesicht „das Ganze“, in dem das Drama enthalten ist“, schrieb Béla Balázs. Im Gesicht, so die These, ist also das Konzentrat des Films enthalten, in ihm können wir als Zuschauende sozusagen lesen. Gut, das war 1924 – dennoch zeigen die diesjährigen Viennale-Filme von Catherine Breillat und Andrew Haigh, in beiden wimmelt es nur so von Nahaufnahmen von Gesichtern, wie unterschiedlich diese Einstellung wirken kann. Es sind aber auch grundverschiedene Filme. Beide handeln von Begehren, Sex und Liebe im Guten und im Schlechten. Bei Breillats Letztem Sommer ist dieses Begehren eines, das das Leben seiner Hauptfigur zu sprengen vermag: eine Frau beginnt eine Affäre mit ihrem Stiefsohn. In All of us Strangers geht es um zwei Formen der Liebe: der romantisch/erotischen einerseits, der zu den Eltern, hier in einer Art Trauma-Plot erzählt, andererseits. Der Unterschied in den Großaufnahmen ist vor allem einer der Ambivalenz bzw. Eindeutigkeit. Die Anziehung zwischen älterer Frau und minderjährigem Stiefsohn wird nicht moralisiert, Nahaufnahmen von ihm versuchen auch die Zuschauenden zu verführen, Konzeptionen zu hinterfragen. Drei Sexszenen gibt es in dem Film, die erste zeigt nur das Gesicht des Stiefsohns, jugendlich-ausprobierend – ganz anders wirkt die zweite. Hier wird das Gesicht der Stiefmutter gezeigt, in der Nahaufnahme mischen sich Lust und Verzweiflung; natürlich ist das eine verbotene „Liebe“, das Begehren hat auch etwas Grausames.

Auf solche Ambivalenzen verzichtet All of us Strangers, wenngleich er narrativ wieder und wieder versucht, eine Art Lynch-eskes Matruschkaspiel der Träume und Visionen zu etablieren. Das läuft ins Leere, auch die Nahaufnahmen kratzen nur auf der Oberfläche. Da sieht man dann eben die bebenden Lippen, den Schmerz in den Gesichtern: Affektbilder. Gegen Eindeutigkeiten ist nicht prinzipiell etwas einzuwenden, der Film aber wird (auch wegen des permanent überkleisternden Soundtracks) zur gefühligen Suppe, einer Art melancholischem Mood-Film, der seine Themen verkitscht, permanent zu nah rückt, um da noch etwas sehen zu können. Dem kann man sich hingeben oder es lassen, mitweinen oder nicht, viel mehr Optionen – die Breillats Bilder in sich tragen – bleiben nicht.

(Anton)


26.10.: Neues Altherrenkino: noch einmal Godard

„I am old and he is young”, sagt Pedro Costa im Gespräch nach dem Screening. Er selbst ist 64 Jahre alt, der, den er da als jung bezeichnet, wäre vor einem Monat 93 geworden: Jean-Luc Godard. „Jung“ bezieht sich offensichtlich nicht aufs Alter, sondern auf die filmische Form – als „permanenten Revolutionär“ hat Bert Rebhandl Godard bezeichnet, auch der neue, wohl letzte Film Godards bricht noch einmal radikal mit gängigen Kino-Konzeptionen. Während Godards letzter Langfilm Bildbuch noch ein Strom aus Zitaten und collagierten Bildern war, bleibt bei Film annonce du film "Drôles de guerres" nurmehr ein Gerippe zurück. Ursprünglich hatte Godard einen Text von Charles Plisnier verfilmen wollen, was man nun sieht sind Skizzen, Pläne für einen Film – dennoch: alles nach Godards Anweisungen ausgeführt, von ihm auch in dieser Form als Film konzipiert: dies ist kein auf eigene Faust von Kollaborator*innen zusammengestückeltes Post-Todes-Projekt, sondern Godard. Da sieht man nun also handschriftliche Blättchen, die auf etwas verweisen, das vielleicht noch hätte gefilmt werden sollen, dazu Musik, gesprochenes Wort. Das erinnert an Avantgarden des 20. Jahrhunderts: der Film muss nicht mehr gedreht werden, der Film als Konzept auf einem Blatt und sonst nichts. Nicht nur Godards letzte Arbeit ist das, man könnte ihn sich auch gut als letzten Film überhaupt vorstellen, als Abgesang und Huldigung auf das Medium zugleich: Canon-Wasserzeichen im Hintergrund, mehr Fragment denn je, der Film spielt im Kopf der Zuschauer*innen – ein trauriger Film, ein radikaler allemal.

(Anton)

 

(c) Saint Laurent, Vixens, L'Atelier


25.10.: Mars Express

Was wäre, wenn Blade Runner ein französischer Animationsfilm wäre? Eine Frage die einem bei der Sichtung von Mars Express unweigerlich in den Sinn kommt, obwohl der Film ganz eigene Stärken aufzuweisen hat.

Eine Welt in der Menschen und (mehr oder weniger) humanoide Roboter zusammenleben, auf dem Mars scheinbarer Alltag, während die Menschen auf der Erde gegen AI protestieren. Inmitten des Ganzen folgen wir der Protagonistin Aline, einer Detektivin, bei der Arbeit. Was als scheinbares Verschwinden zweier Kybernetik-Studentinnen beginnt, entwickelt sich bald zu einem packenden Krimithriller.

Obwohl dieser inhaltlich nicht komplett neu ist, ist die Geschichte packend erzählt und hat genau die richtige Länge die sie benötigt um glaubhaft zu funktionieren. Das Wunderbare an dem Film ist allerdings die erschaffene Welt, die Ideen die darin stecken und so manche Details die es zu entdecken gibt. Es macht Spaß, sich in dieser Welt aufzuhalten, während man mit existenziellen Fragen konfrontiert wird. Insbesondere, ob und inwiefern Roboter/AI eine Seele und somit ein gleiches Recht auf Leben haben wie Menschen. Dies wird wunderbar mit einem spannenden Kriminalfall verwoben und kann in der Umsetzung dadurch mehr überzeugen als der kürzlich veröffentlichte Blockbuster The Creator.

Ein gelungener Genrefilm, der Sci-Fi Fans wie auch jene die es werden wollen unterhalten wie überzeugen kann!

(Julia)


23.10.: Un Andantino, This is how a child becomes a poet & Clorindo Testa

„Film“ steht im alltäglichen Sprachgebrauch oft vor allem für eins: narrativen Langfilm. Anfang, Mitte, Ende, eine ausgedachte Geschichte. Für andere Spielarten des Mediums gibt es dann Sonderbegriffe, da hat man keinen „Film“ gesehen, sondern eine „Doku“ oder so. Nur wenige Arbeiten, die kein klares Narrativ bieten, finden schließlich ihren Weg ins Kino. Weil sie zu sperrig sind, zu lang, schlecht zu vermarkten, nicht „abendfüllend“, ein komischer Begriff. Das aber ist das Schöne an Festivals wie der Viennale: genau diese Filme auf der Leinwand zu sehen, die es danach vielleicht einmal auf Mubi oder in merkwürdigen Internet-Tiefen zu sehen gibt, selten als DVD.

Un Andantino und This is how a child becomes a poet eint die Form zwischen Dokumentar- und Fiktionalfilm, die persönliche Herangehensweise und die Auseinandersetzung mit dem Medium Film selbst. Ersterer kreist um eine gestrichene Szene aus einem älteren Film des Regisseurs Alejo Moguillansky, welche den Einsatz einer Schubert-Sonate in Robert Bressons Au Hasard Balthazar thematisiert – diese wird erweitert und mit auto-fiktionalen Ebenen kombiniert/kontrastiert. Bressons Bilder treffen auf Moguillanskys alte und neue Bilder, es entsteht ein Gewebe der Ebenen, welche sich, alle auf ihre Art, im Leben von Figuren, Filmemacher und Zuschauer*in (auch hier verschwimmen die Grenzen) einschreiben. Bressons Esel Balthasar ist genausowenig/-sehr nur „Fiktion“ oder nur „Film“ wie das Gesicht Moguillanskys, wie die Klaviertöne Schuberts.

In This is how a child becomes a poet von Célina Sciamma gibt es diese überlappenden Ebenen genauso. Zuerst ist das ein Film über die Freundschaft Sciammas zur jüngst verstorbenen Dichterin Patrizia Cavalli: deren leere, verwaiste Wohnung wird gefilmt, einmal von einer dritten Person, dann von Sciamma selbst, die anschließend nach Verweisen auf Cavallis Beziehung zum Kino sucht. Sie findet sie in Form eines Bildes der Schauspielerin Kim Novak, welche qua Montage zwischen Aufnahmen von Cavallis Wohnung Einzug in den Film erhält. Auch hier also: echte Wohnung, Filmfiguren – Kim Novak als Bild, als Fiktion, aber auch als Ausgangspunkt für Cavallis erstes Gedicht.

Schließlich ist da Clorindo Testa, ebenso autofiktionaler Doku-Spielfilm-Essay-Mix. Wie in den zwei bereits erwähnten Filmen steht auch hier der Regisseur selbst vor der Kamera, der Modus ist ähnlich, der Ton anders, ironischer: einen Film über ein Buch seines Vaters über den Architekten Clorindo Testa will er machen, verkündet er – bloß keinen Dokumentarfilm über seinen Vater, über Väter, auch keinen über Testa. Nein, über das Buch von seinem Vater über Testa. Ähnlich verschachtelt geht es dann weiter, immer wieder setzt der Film neu an, dokumentiert und spielt das Scheitern des Projekts im nichtgescheiterten Projekt – Fiktion und Bruch hier als Selbstreferenz, als Galgenhumor ob der Unmöglichkeit des Films, der dann doch einer ist. Was „wahr“ ist, wer weiß das schon.

(Anton)

Clorindo Testa /// (c) Viennale

 

22.10.: Auswahl als Montage, Kuru otlar üstüne, Shadowless Tower

Auch das eigene Auswählen der Filme auf Festivals ist Montage, Filme überlagern sich im Kopf, befragen einander - da wirkt der eine noch unverdaut nach und drängt sich in die Bilder des nächsten. Nicht selten wirkt ein Film mit etwas Abstand beim wiederholten Schauen grundverschieden, auf Festivals sieht man anders.

Kuru otlar üstüne (Auf trockenen Gräsern) und The Shadowless Tower sind da kein schlechtes Paar. Türkische Provinz als lebensfeindlicher Ort im ersten, Peking im zweiten. The Shadowless Tower ist mehr noch ein Film über die Stadt als über seinen Protagonisten, einen Restaurantkritiker, der so vor sich hin lebt, eine weitaus jüngere Frau trifft. Slice of Life-Kino, über das man geneigt ist, Plaititüden wie “mmh, Poesie des Alltags” zu bemühen. Auf trockenen Gräsern befragt gerade diese Alltäglichkeit, hier entstehen Situationen - es kann auch nur ein Gespräch sein - in denen Rechenschaft abgelegt werden muss, das Herumtrödeln nicht mehr länger möglich ist. Im zentralen Abendessen des Films steht die Zeit für einen Moment still, die Kamera verwandelt Figuren in Statuen. Innehalten im Moment der Spannung. Kurze Zeit später dann die Implosion des Narrativ, auch das explosiv und kurz, Zuschauer*innen und Figuren werden herauskatapultiert, auch der Film selbst kann nicht im normalen Modus weitermachen. Solch eine Dringlichkeit fehlt den Bildern im Shadowless Tower, vielleicht würde sich bei der umgekehrten Schau-Reihenfolge aber ein ganz anderes Thema aufdrängen.

(Anton)


21.10.: The Boy and the Heron

Wundersame Welten, kreative Kreaturen und mysteriöse Menschen vereinen sich in Hayao Hiyazaki’s neuem Werk The Boy and the Heron um das Publikum in ein neues Märchen zu entführen. Das Erleben und Entdecken von fabelhaften Wesen begleitet von einer anspruchsvollen Animation und sinnlicher Musik wird zu einer langen immersiven Wanderung, die nicht davor zurückscheut auch düstere Wege zu gehen. Leider wurde dabei die Logik und Struktur der Geschichte vernachlässigt, und so rinnt sie vor sich hin - ohne ein klares Ziel ohne die Suche nach Antworten. Auch reflektive Botschaften sucht man vergeblich. Themen wie Trauer und Wut sowie Akzeptanz und Selbstfindung werden durch den Protagonisten angeschnitten, doch rein oberflächlich gehalten. Doch mit der entsprechenden Erwartungshaltung, bietet der Film die Möglichkeit seinen Alltag und Probleme zu vergessen und sich für knapp zwei Stunden verzaubern zu lassen.

(Lucas)

21.10.: Robot Dreams

In einem New York, welches von antropomorphen Tieren besiedelt ist, lebt ein einsamer Hund namens Dog. Um diesem Umstand zu entkommen bestellt er sich einen Roboter. Der Beginn einer wundervollen Freundschaft. Der spanische Animationsfilm Robot Dreams begleitet die beiden durch ihre gemeinsame Zeit, welche durch einen Strandbesuch beendet werden muss. Kann ihre Freundschaft die Distanz überdauern?

Regisseur Pablo Berger bietet in seinem aktuellen Werk, basierend auf einem Comic von Sara Varon, einen hervorragenden Blick auf das Erwachsenenleben und wie dieses das Freundschaftenschließen beeinflusst. Er benötigt dafür nicht ein gesprochenes Wort. Stattdessen setzt er auf den simplen, aber sehr gelungenen Animationsstil, der wirklich tolle Bilder schafft, und ganz stark auf die Macht der Musik. Besonders "September" von Earth, Wind and Fire begleitet als musikalisches Thema die Freundschaft des ungleichen Paares und wird hierbei gekonnt in mehreren Szenen eingesetzt. Weiters bedient sich der Film einigen filmischen Referenzen, ganz gleich ob Star Wars, The Shining, The Wizard of Oz, oder ein ganz kleines bisschen Frankenstein, als Kenner*in vieler Filme kann man hier das eine oder andere Easter Egg entdecken. Dies kann nun gefallen oder auch nicht, denn so charmant sich der Film und seine Geschichte durch alle Jahreszeiten hindurch präsentiert, so fühlt er sich doch ein paar Minuten zu lange an, ein paar Referenzen weniger hätten gut getan.

Dennoch bleibt abschließend zu sagen, dass Robot Dreams eine Empfehlung wert ist, insbesondere für das tolle World Building und den sehr erwachsenen Umgang mit dem Thema Freundschaft. Aufgrund des Animationsstils eignet er sich als Familienfilm, der auch mit Kindern gesehen werden kann, wobei er aufgrund der Länge und des Themas vielleicht eher von Erwachsenen voll wertgeschätzt werden kann.

(Julia)


20.10.: Dauer, Jugend, Stillstand

Filmische Dauer ist bei Wang Bings Qingchun Gewöhnungsmittel – eine große Anzahl an Arbeiter*innen wird hier eingeführt, alle arbeiten sie in Textilfabriken im chinesischen Zhili, größtenteils sind sie unter zwanzig, teils noch jugendlich. „Jugend“ heißt der Titel übersetzt. Viel vom Gleichen in Variationen sieht man in diesem Film, man hört es auch: das Rattern der Nähmaschinen stellt einen Teil dieser Welt dar, Textilstoffe, Flirts am Arbeitsplatz, kahle Betonwände, Lohnverhandlungen, Streit– dreieinhalb Stunden Alltag in der Fabrik, das klingt für die meisten furchtbar, teilweise wirkt es auch so, gleichzeitig ist da aber auch immer wieder eine improvisierte Zärtlichkeit in Bildern und Dargestelltem.

Eine andere Rolle spielt die Dauer in Stillstand, der das An- und Innehalten schon qua Titel vorausschickt. Nikolaus Geyrhalters neuer Dokumentarfilm ist Zeugnis der Covid-Zeit in Wien, man sieht ausharrende Flugzeuge, leere Straßen, einen verwaisten Gartenbaukino-Saal – dessen Leiter Norman Shetler spricht auf der Leinwand darüber, dass er sich einen vollen Kinosaal nicht mehr vorstellen kann, während man als Zuschauer*in heute Abend wie selbstverständlich in ebenjenem sitzt. Verschiebungen des Begriffs von Normalität sind ein großes Thema in diesem Film, der präzise gefilmtes Zeitdokument ist, in nüchternen, stillen Bildern beobachtet und aufzeichnet, im Schnitt aber auch klar kommentiert. Da sieht man Menschen auf einer Impfgegner-Demonstration Masken verbrennen, harter Cut: ein grauer Wagen fährt vor, Stadt Wien, Bestattung. „Wen haben wir denn da?“. Hölzerne Särge. Um 17:55 Uhr wirkt das gedanklich weit entfernt, zwei Stunden später, nach dem Film, wie gestern. Was ist anders?, zentrale Frage in Stillstand, bezieht sich auch auf die Zuschauenden.

(Anton)

20.10.: Chile, la Memoria Obstinada

Chile, 11. September 1973. Eine militante Revolution (geführt von Augusto Pinochet) verändert ein Land und stürzt den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Der Film berichtet persönlich und unaufgeregt über die damaligen Ereignisse und deren Folgen. Zu Wort kommen bekannte des Regisseurs und Personen aus Allendes Umfeld. Spannend sind auch jene emotionale Szenen in welchen Studierende Guzmáns vorherigen Film "The Battle of Chile" sehen und teilweise zum ersten Mal mit den Begebenheiten konfrontiert werden. Jenen Film bereits gesehen zu haben ist sicherlich von Vorteil, denn es wird ohne große historische Einordnung oder Vorstellung der Protagonist*innen in medias res gegangen. Ohne Vorwissen über die damalige politische Lage in Chile dauert es etwas sich zurechtzufinden, man nimmt so oder so neues Wissen darüber mit!

(Julia)


19.10.: Am Anfang ein Ende: zur letzten Einstellung des ersten Films

Das Meer als letzte Einstellung eines Films hat Tradition - man denke etwa an Truffauts Antoine Doinel, der in Sie küssten und sie schlugen ihn über den Strand joggt, ins Wasser hinein, dann blickt er in die Kamera. Bei Aki Kaurismäki enden mehrere Filme mit dem Aufbruch eines Schiffs. Auch Magyarázat mindenre, Eröffnungsfilm der Viennale, endet mit solch einem Bild. Abel, jugendlicher Protagonist des Films, läuft mit einer Gruppe Gleichaltriger ins Wasser hinein, die Kamera schält langsam die Schichten ab, trennt sich bald von Abels Freund*innen, nur noch er läuft dann, von oben gefilmt - ob durchs oder auf dem Wasser, wird verundeutlicht. Schließlich aber enteilt die Kamera auch dem Protagonisten, fliegt voraus auf den See - keine Menschenseele ist in den letzten Sekunden dieses Films, der zuvor so sehr an seinen Figuren klebt, übriggeblieben. Ein utopisches Ende oberflächlich, gleichzeitig das Gegenteil. Der Blick auf eine “gespaltene Gesellschaft” löst sich am Ende auf, all die menschlichen Probleme werden zurückgelassen, bleiben verwaist außerhalb des Rahmens zurück. Die Gruppe der Jugendlichen: eine Generation, Zukunft - das Meer hier: ein Hauch von Posthumanismus.

(Anton)

 

Drift (2017, R: H. Wittmann) (c) Filmgarten

Bohema Bohemowski

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