Ich, Ingeborg Bachmann und der schlimmste Mensch der Welt

Eine Collage aus dem Kopf. Sprunghaft und ungeordnet wie unsere Gedanken und unser Leben in den 20ern. Wer bin Ich? Was mache Ich? Gehen oder bleiben? Ingeborg, Ich oder der schlimmste Mensch der Welt? Von Stephanie Madeleine Grechenig und Yannik Barth.

Porträt von Charlie Stein

Wer bin ich eigentlich? In letzter Zeit kommt diese Frage immer häufiger auf. So langsam ist vielleicht das Studium um, Beziehungen enden, neue beginnen. Man muss sich entscheiden, wo man hinmöchte, wer man im Leben sein will. Zumindest fühlt es sich so an, wenn man gefragt wird, was der nächste Schritt sein soll.

Doch genauso unkonkret wie die Vorsätze und Pläne sind, die man sich zurechtlegt, sind die Gedanken, welche man über sich und die Zukunft hat. Ungeordnet, unkonkret, aber fast immer passend und tragisch schön. Anstatt hier eine Antwort zu geben, einen sauberen runden Artikel, in dem wir dir sagen, was das „Ich“ ist, öffnen wir unseren Kopf und unsere Gedanken, welche wir zu diesem Artikel hatten und zu uns haben. Hier unsere Gedanken Collage:

 

Ich

 Sklaverei ertrag ich nicht

Ich bin immer ich

Will mich irgend etwas beugen

Lieber breche ich

 

Kommt des Schicksals Härte

oder Menschenmacht

Hier, so bin ich und so bleib ich

Und so bleib ich bis zur letzten Kraft

 

Darum bin ich stets nur eines

Ich bin immer ich

Steige ich, so steig ich hoch

Falle ich, so fall ich ganz



 

Der Wahrheit ins Auge schauen

 Freier Wille, Selbstbewusstsein, mit den Konsequenzen des Lebens zurechtkommen, freie Urteilskraft, Mut, sich selbst treu zu bleiben beziehungsweise zu sein, der Realität ins Auge zu sehen und die Existenz so hinzunehmen, wie sie ist. 

 Ach Ingeborg … großartig! 

 Die Worte der österreichischen Schriftstellerin und Denkerin Ingeborg Bachmanns des Gedichts “Ich” argumentieren ehrgeiziger, als es die Einfachheit ihrer Wortwahl vermuten lässt. Die Konstante, die Ingeborg als sich selbst bezeichnet, sei es das Wesen oder die Seele, wird im “Ich” davor gewarnt, sich von ihrer Umwelt einschränken oder prägen zu lassen.

 “Will mich etwas beugen - lieber breche ich”

 Eine einfache Interpretation und wohl die naheliegendste wäre, dass man sich nicht durch äußere Kräfte, wie beispielsweise Regeln oder Gesellschaftsnormen einschränken soll. Die Wahrheit, die das Subjekt aus sich selbst heraus widerspiegelt und darstellt, ist an sich schon gut genug. “Ein Kunstwerk argumentiert nicht”- ein Satz, der sehr oft mit Ingeborg in Verbindung gebracht wird, trifft diese Thematik sehr gut. Das Kunstwerk ist hier das Wesen selbst, das auch mit seinen unbeliebten Facetten versucht sich treu zu bleiben und sich nicht durch externe Faktoren beeinflussen lässt.

Die unverfälschte Wahrheit ist der Menschheit zumutbar und soll gepriesen werden, so wie sie nun mal ist.

Und um es einfach auszudrücken: “Be yourself be true to yourself” :)

Kurzer Denkanstoß

 In Momenten der Extreme fühle ich am intensivsten. Trauer, Freude und Frieden, die Gefühle auslösen, lassen das Bewusstsein und das Ich erkennen. Es sind genau diese Momente, die Emotionen und ein Gefühl der Lebendigkeit erzeugen. Sie sind es wert, in vollen Zügen genossen zu werden, um sich selbst zu erkennen. - Stephanie

“become who you are” durch den Willen zu leiden

 Die Selbstüberwindung, von der Nietzsche spricht, oder die Notwendigkeit, Leid zu empfangen, um sich selbst zu finden, scheint auf den ersten Blick etwas radikal. Bei genauerem Hinsehen macht dieser Gedankengang aber durchaus Sinn. Und wieder sieht man hier einen Zusammenhang mit der Forderung Ingeborg Bachmanns, sich der Wahrheit und der Realität anzunehmen. Das Leben ist kein "Ponyhof", wie man so schön sagt. Das Leben zu leben bedeutet auch offen zu sein für das Empfangen von Leid. Sich dem Schmerz zuzuwenden, führt zum Kennenlernen seiner Selbst. Somit soll laut Nietzsche das Leid suchen keine Momentaufnahme des Einzelnen darstellen, sondern ein unausweichlicher Bestandteil des Lebens sein.

 He who has endured pain his whole life long will at least find relief from it and will look down upon it with astonishment, saying: ‘What was that? Was that also life?’” -Nietzsche

 

“That what does not kill us makes us stronger”-Nietzsche

Was ist ich

 Es heißt so oft, erkenne dich selbst (Apollotempel von Delphi), werde, wer du bist (Nietzsche) oder bleib wie du bist. Doch was ist dieses Ich? Kommt nicht jede Veränderung von diesem Ich? Verändert nicht auch jede Veränderung dieses Ich? Wie soll ich wissen, wer ich werden soll, wer ich gestern war und heute bin? 

 Eine interessante Ansicht findet man auf diese Fragen in dem circa 2200 Jahre alten buddhistischen Milindapanha (die Fragen des Milinda). Dieser Text ist nicht nur wegen seines Inhalts bemerkenswert. Milinda, welcher die Fragen stellte, war nämlich Grieche, genauer gesagt der Indo-Griechische König Menandros. Und er stellte seine Fragen an einen buddhistischen Mönch, Nagasena. Das bedeutet, dass zwei der größten Philosophien, die Griechische und die Buddhistische, vor 2200 Jahren Kontakt miteinander hatten. Allerdings muss gesagt werden, dass außer der Dialogform, welche klassisch für die griechische Philosophie ist, sich kein griechischer Einfluss in den Inhalt finden lässt. Auch wurde der Text vermutlich nie in Griechisch verfasst und war bis in die Neuzeit im Westen nicht bekannt und daher nur auf Chinesisch und Pali erhalten.

Doch nun zum Inhalt. In dem Gespräch fragt Milinda Nagasena nach seinem Namen. Welcher antwortet, dass er Nagasena genannt wird, jedoch auch, dass es keine Person gibt, welche Nagasena ist. Milinda wundert sich, wie wohl wir auch. Doch Nagasena fragt jetzt wo Nagasena ist, in der Hand, im Bein, im Kopf? Er vergleicht dies mit einem Wagen. Welcher Teil des Wagens ist denn der Wagen? Wenn alle Teile zusammen der Wagen sind, ab welchem fehlenden Teil, macht es den Wagen zu keinem Wagen mehr? Wenn eine Schraube während der Fahrt verloren geht, ist es dann kein Wagen mehr?

 Also noch einmal zu unseren Ausgangsfragen. Wenn es mich also nicht gibt, wie soll ich dann werden, wer ich bin? Wie soll ich erkennen, wer ich bin? Vielleicht ist mit dem Ich wirklich nur der gemeint, den andere in mir sehen. Wie Nagasena nur ein Rufname für seine Anhänger ist. Wenn ich also werden soll, wer ich bin, oder mich erkennen soll, ist es dann eigentlich nur das, was andere in mir sehen? Wen andere in mir sehen? Wie Faber in seinem Lied „Jung und dumm“ könnte man sich fragen: 

 “Ich weiß nicht, soll ich kotzen oder weinen

Wenn mir einer sagt

Ich soll bitte so bleiben wie ich bin”-Faber

 Genauso könnte ich kotze, wenn einem gesagt wird: "Hey heute bist du aber überhaupt nicht wo sonst drauf, also so gar nicht du selbst." Was soll man mit einer Aussage wie dieser anfangen? Die Situation, die Person, die einem gegenüber steht, gibt einem den Grund, sich entsprechend zu verhalten. Worte wie diese erzeugen nur Unsicherheit und führen dazu, dass die eigene Person, oder wie wir Mitteleuropäer meinen, die eigene Identität abgegrenzt wird.  

Welches Ich meinen die anderen

 Ist dieses Ich, dass die anderen in einem sehen, denn so abwegig? Wie oft sagt man nicht den anderen oder denkt: „Das war nicht ich in diesem Moment. Ich war nicht ich selbst oder ich stand neben mir.“ Man muss nur an die letzte peinliche Nachricht, welche man betrunken verschickt hat, denken, was man gesagt hat, als man wütend war oder wie einfach man über Dinge hinwegsehen konnte, wenn man überglücklich war. Für Philosophen wie Marc Aurel, römischer Kaiser und letzter Stoiker oder Edmund Husserl, Begründer der Phänomenologie und Professor von Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty oder Emmanuel Levinas gab es dafür eine recht banale, aber gar nicht so leicht fassbare Lösung. Denn im Gegensatz zu Nagasena, für wen es dieses Ich gar nicht gab, bemerkten sie, wie hoffentlich auch die meisten Leser, dass es ja etwas gibt, das in meinem Fall diesen Text gerade schreibt und in deinem Fall diesen Text ja gerade liest. Man könnte vielleicht sehr vereinfacht sagen, dass Nagasena sich und wohl auch die anderen von außen betrachtet hat. Den Menschen, den wir sehen. Und Husserl und Marc Aurel das betrachtet haben. Den Menschen, der sieht. Beide Philosophien, die von Marc Aurel und die von Husserl, zu erklären, würden hier zu weit gehen, zumal beide verschiedene Schulen vertreten, allerdings passen ihre Ansichten zum Ich hier ganz gut. Denn für beide besteht, wie man schon vermuten könnte, das Ich im Wahrnehmen. Ich nehme wahr, dadurch kann ich von mir ausgehen. Allerdings bedeutet das auch, dass ich nicht seit 24 Jahren lebe oder ein kleines Kind noch Jahrzehnte leben wird, sondern ich nur in diesem Moment, in dem ich schreibe, und in dem du liest, existiere. Die Vergangenheit existiert ebenso wenig für mich wie die Zukunft, denn kann ich sie sehen? Erinnerungen sind hier noch einmal ein ganz neues großes Feld. Man könnte also sagen, dass für Marc Aurel und Husserl es schon ein Ich gibt. Dieses jedoch nicht das Gleiche ist, wie das ich, dass gestern betrunken die peinliche Nachricht geschrieben hat, wütend, verletzend geworden ist oder dem in seiner Glückstrunkenheit die Sorgen gar nicht mehr so groß erscheinen. Die anderen können also nur das Ich kennen, dass sie kennen gelernt haben und nicht dass ich gerade bin. Auch Nietzsches: “Werde wer du bist“ könnte fast in diese Schiene gehen, da für Nietzsche der Übermensch war, welcher ständig wird und ständig vorangeht. Solange man sich bewegt, solange man sich im Moment befindet, ist man also ich? 

 

“Ich jetzt hier und da, ich, ich und ich.” -Yannik und Stephanie

Der schlimmste Mensch der Welt

 Ein Film, der diese Probleme mit dem Ich und dem Ich in der Welt wie kaum ein anderer zeigt, ist “Der schlimmste Mensch der Welt” von Joachim Trier, welcher letztes Jahr seine Premiere feierte. 

 Der norwegische Film erzählt die Geschichte der Ende dreißig jährigen Julie und ihrer Frage: “Wann dieses Leben denn nun eigentlich anfängt ”. Sie studiert, aber fragt sich mit der Zeit, ob es das nun ist, dann bricht sie das Studium ab. Sie liebt einen Mann und fragt sich, ob es das nun war, dann trennt sie sich. Hin- und hergerissen von Situationen, Freunden und unbestimmten Möglichkeiten, mit der Angst, eine bessere Option verpassen zu können.

Anstatt die Partys zu zeigen, fokussiert der Film auf die Heimwege von diesen. Jene Heimwege, an denen man alleine, angetrunken durch die leere Stadt schlendert und in Gedanken schwelgt, die einen dazu drängen, sein ganzes Dasein zu hinterfragen.

Anstatt des Streits und abschließenden allbekannten "Happy Endings" in Beziehungen zu zeigen, veranschaulicht der Film die endlosen Stunden, in denen man neben dem Partner liegt und sich der Frage widmet, ob man bleiben oder gehen soll. Er zeigt die unangenehmen Unsicherheiten scheinbar im Leben stehender Menschen, was man denn mal mit seinem Studium machen will, wann man endlich Kinder bekommt oder was, wenn eine andere Option die bessere ist. Julie ist immer sie, wie Ingeborg Bachmann immer ich war. Aber wie kann man immer man selbst bleiben, wenn sich die Welt um einen ändert? Zudem, wenn man gezwungen wird, sich ständig neuen Eindrücken und Perspektiven anzupassen. Mit der Schwierigkeit, konfrontiert zu werden, herauszufinden, wie das neue Ich seinem alten Ich gerecht wird. Und wann wäre der Zeitpunkt, lieber die Welt zu ändern, anstatt sich selbst und „Ich“ zu bleiben?

Vermeintlich eingemeißelte Selbstbilder, die einfach nicht mehr den Umständen genehm sind. Gilt es, diese zu ändern? Muss man diese vor anderen verteidigen?  

 Es wird, wie wir es nie zuvor gesehen haben, das Gefühl des Verlorenseins veranschaulicht, und zumindest wir haben uns nach dem Film nicht mehr so allein gefühlt. 

 

 

Bohema Bohemowski

A collective mind of Bohema magazine

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