Die süßeste Ware der Stadt
Album draußen, Single in den Startlöchern – höchste Zeit Dialekt-Pop-Sweetheart wienerzucker vorzustellen.
Wo man im Internet kurzerhand beim Recherchieren erst einmal auf ein Süßwarenprodukt stößt, ist auch wienerzucker nicht mehr weit. Zwischen Schlafzimmer-Vibes und Sprechgesangelementen befinden sich sehr persönliche und sehr direkte Texte. Sein Umfeld, seine Erfahrungen, seine Beziehungen und aktuelle politische Texte präsentiert er ehrlich und unumwunden in unerwartete Kontraste: verzerrte Gitarre, fast gebrülltes Singen, Dunkelheit und Mollakkord zusammen mit tanzbaren Rhythmen und eingängigen Melodien.
„Ich habe schon viele coole Sachen in meinem Leben gemacht. Ich war schon sehr, sehr, sehr traurig, war schon sehr, sehr, sehr glücklich. Ich war schon sehr, sehr, sehr verliebt, und auch unglaublich heartbroken.
Nichts ist so krass wie beim Songschreiben zu merken, da passiert gerade etwas in mir und ich glaube, da kann bei wem anderen vielleicht auch was passieren.
Wenn ich es dann live spiele und merke, dass es ankommt – das ist eine Art von Adrenalin und Glück, die ich so noch nie gehabt habe.”
Schon hier merkt man: wienerzucker ist ein Musiker der besonderen Art. Nicht nur ist er offen, ehrlich und weiß sich auszudrücken, sondern nimmt seine Umgebung besonders in Konzertsituationen komplett auf. Im persönlichen Gespräch reflektiert er über seine Lebenserfahrungen, denkt viel nach und schätzt zwischenmenschliche Beziehungen aller Art. Das spiegelt sich auch in seinen Songs wider.
Der Dialekt-Popmusiker aus Salzburg singt, spielt Gitarre und tritt meist zusammen mit seiner Band “zweite Kassa” auf – am liebsten in Wiener Gürtellokalen oder auch auf Festivals wie etwa das FreeTree. Bei einem Liederabend spielt wienerzucker gerne intime Stücke allein oder in kleiner Besetzung, bei einer Demo wählt er wiederum bewusst aggressivere Stücke mit politischen Aussagen.
Wenn wienerzucker nicht gerade Musik macht oder mit seinem Indie-Label Strizzico nächste Projekte plant, wirkt er bei verschiedensten Filmprojekten von beispielsweise HBO oder Netflix als Regieassistenz und Aufnahmeleitung mit. Oft arbeitet er für 3 Monate durch und widmet sich das restliche Jahr kleineren (eigenen) Projekten.
Zwischen Punk und Psytrance
Aufgewachsen ist wienerzucker in Henndorf am Wallersee. Sein Umfeld war – anders als bei vielen Musiker*innen – nicht musikalisch. Seine Eltern schickten ihn in die Musikhauptschule, um Gitarre zu lernen. Die Schule hat er aber ziemlich gehasst und hatte mit 16 zum ersten Mal eine depressive Phase, die zunächst unerkannt und unbehandelt blieb. Zur selben Zeit gründete wienerzucker mit seinen Freunden eine Grunge-Punkband und verarbeitete als Gitarrist, Sänger und Songschreiber Heartbreak, Traurigkeit, aber es gab auch erste Annäherungsversuche an politische Themen. Als ihn ein Bandkollege erstmals zu einem Rave mitnahm, war wienerzucker zunächst aufgrund der fehlenden akustischen Instrumente skeptisch gegenüber der Musik. Doch dies führte zu seinem nächsten Meilenstein: unter dem DJ-Namen Open Tribe fing wienerzucker an, Psytrance und Goa zu produzieren und aufzulegen. Nach zwei Jahren beendete er seine DJ-Karriere, nahm wieder seine Gitarre in die Hand und meinte, er möchte jetzt Geschichten erzählen.
Therapie als Anstoß: die Geburtsstunde von wienerzucker
Aus politischen und kulturellen Bedürfnissen wusste er schnell, dass er an einem anderen Ort wohnen wollte. Als er dann mit 20 Jahren für sein Filmproduktionsstudium nach Wien zog, spürte er den Unterschied der Lebenswelt und Denkweise zwischen Land und Stadt gleich. Viele Grundwerte vertrat er zwar schon als Kind, mit dem Umzug kamen aber ein tatsächliches Politikinteresse und das Bedürfnis, sich zu involvieren. Teil des neuen Lebensabschnitts war vor allem auch die Konfrontation seiner psychischen Probleme.
„Aufgrund diverser Vorkommnisse habe ich mit 23 Therapie angefangen und das hat mich dann zu der Person gemacht, die es nicht nur für eine gute Idee hält und sich irgendwie dazu durchringt, sondern Musik auch gerne macht.“
Die süßeste Ware der Stadt
Sein erster Song I geh jetzt ham unter dem Künstlernamen wienerzucker erschien 2018 auf der Akustik-Platte Alles Was Weg Muss. Der Ursprung des Liedes klingt fast wie ein Klischee: Auf einer WG-Party traf er eine Exfreundin, mit der die Beziehung unschön auseinanderging. Nachdem er lange unter der Trennung gelitten hat, war dies der Abend, wo ihm zum ersten Mal bewusstwurde, dass er damit abgeschlossen hat – wie auch die Textzeile „Du bist mir wurscht“ verrät. Nach diesem Abend ging er heim, schrieb seine Gedanken in einen Song nieder. Die erste Reaktion von außen kam von einem guten Freund, der meinte, dass der Song ballert und süß zugleich sei. Dies führte schließlich zu der Entstehung des Namens „wienerzucker“ – bestehend aus dem „Süßen“ des Musikers zusammen mit seiner Wienliebe und der Idee, „die süßeste Ware der Stadt zu sein“.
Nach dem Startschuss der ersten Nummer folgte eine „intensive Zeit“, in der sich der Künstler mit dem Popgenre vertraut machte, viel probierte und viel wieder verwarf. Dialekt-Popmusik ist das, was dabei rauskam. Die Auseinandersetzug mit dem „negativ konnotierten“ Popgenre war eine bewusste Entscheidung, da dieses eine „große Bandbreite an Musik abdeckt, komplex sein kann und dabei trotzdem für viele Menschen zugänglich ist.“
Im Laufe der Zeit hat sich wienerzucker als Mensch – zusammen mit seinen Texten – aufgrund von Therapie und neuen Erfahrungen verändert. Deshalb spielt er manche Lieder auch nicht mehr. Trauer, Melancholie und Selbstzweifel seien etwas sehr Valides, aber den Selbsthass findet der Künstler anstrengend: „Ich schreibe mir gegenüber nicht mehr mit so viel Selbstabwertung. Ich sage die Dinge reflektierter, nicht mehr mit Herzschmerz, sondern mit einem Augenzwinkern.“ Darüber ist er sichtlich froh, denn „das ist nicht das, wovon die Welt mehr braucht. Eigentlich das Gegenteil davon.“
Zweite Kassa (bitte!)
Mit Paul hat das ganze Projekt wienerzucker angefangen. Er war Trompeter der Band Taris und gefiel wienerzucker so sehr, dass dieser ihn fragte, in seiner Band zu spielen. Eine Facebook Nachricht später treffen sich die beiden und wienerzucker gibt „die intimsten Dinge über ein paar Akkorde“ preis. „Das ist eine sehr spannende Art und Weise, wen kennenzulernen.“ Nach und nach vervollständigten wienerzucker und sein „Wegbegleiter erster Stunde“ die Band mit Leuten aus ihrem Netzwerk. „Das ist eine ziemliche Inzestpartie. Es sind alle miteinander verwoben, ein kleines Biotop“, sagt wienerzucker mit einem Lachen als er über die Bandgeschichte nachdenkt. Ohne jegliche Ahnung, wie man eine Probe anleitet, versammelte er die zusammengewürfelten Bandmitglieder. Dass alle mehr Auftritts- und Probenerfahrung hatten als er selbst, sorgte zunächst für Irritation und Belustigung.
Mit einem Leuchten in den Augen, vollkommener Dankbarkeit und Stolz erzählt er von der Arbeit seiner Band: „Teilweise komme ich schon mit fertigen Demos, und die Band macht dann genau das, was ich gerne hätte – nur ein bisschen besser. Das ist einer der krassesten Prozesse kreativer Natur, die ich jemals erlebt habe: dass jemand meine Idee besser umsetzt, als ich es mir selbst vorstellen kann.“ Auch wenn die zweite Kassa den Gesamtsound der meisten Songs prägt, ist sie nicht immer (vollständig) zu hören. Wienerzucker schreibt alle seine Songs so, dass er sie allein und unverstärkt mit seiner Taylor Westerngitarre, die er liebevoll Tina nennt, spielen kann. Bei Was guats tut er das immer: „Da find ich die Erzählung so schön und so stark, dass sie allein stehen kann. Das ist fast ein Gedicht mit ein bisschen Akkorden unterlegt. Bei Liedern mit weniger Text finde ich es auch schön, den Raum, der dadurch frei wird, mit Musik zu füllen und aufzufangen. Je verletzlicher ich mich durch den Text fühle, desto minimalistischer ist er instrumentiert.“
„Ich störe halt auch gern Leute“
Politik ist wienerzucker ein großes Anliegen. Auf diversen Klimastreiks sorgt er mit Konzerten und politischen Liedern für Unterstützung. Letztes Jahr hat er bei der Kundgebung zur EU-Grenzpolitik am Heldenplatz live gespielt – und auch beim Lobaucamp: „Diese Idee ‚Lass uns eine Autobahn bauen damit wir weniger Autos haben‘… Österreich ist schon richtig geil! Dieses Österreich, muss man einfach lieben. Die Idee von i lieb dieses land und diesen zynischen Geschmack von Pseudopatriotismus – es ist selten so, dass ich eine solche Idee habe, diese dann aufschreibe und es damit dann erledigt ist. Ich trage diese Idee, diesen Satz oder was immer es ist, wochenlang mit mir herum, bis es so dringend ist, dass ich es in 20 Minuten komplett draußen hab. Und wenn ich es in der Zeit nicht fertig habe, dann ist es meistens nicht gut.“
Auf seinem im Mai erschienenen Konzeptalbum singt er neben Substanzmissbrauch, Generationenkonflikte und Weltschmerz auch über Sexualität, sexuelle Identität und darum, mit Mitte 20 zu merken, dass man nicht hetero ist. Dabei ist im durchaus bewusst, dass die Kunst eine Bubble ist: „Es werden sich nicht erzkonservative, homophobe Menschen Alles von Dir anhören und sich denken, hey, diese Gedanken über Bisexualität, die sind ja spannend. Politik ist ja auch was Identitätsgebendes auf eine Art und Weise.“
Dennoch ist es ihm überaus wichtig, politische Themen und vor allem Ungerechtigkeiten (musikalisch) auszudrücken. Wenn Leute die Meinung vertreten, unpolitisch zu sein, seien sie auf der Gewinnerseite, da man dann finanziell privilegiert genug sei, sich aus politischen Entscheidungen rauszuhalten. „Und das geht sich halt einfach für die meisten Leute nicht aus. Politik bedeutet ganz oft, Menschen mit Fragen konfrontieren, die sie sich nicht stellen wollen.“
Gerne würde wienerzucker aktiver werden, jedoch ist er laut eigener Aussage Demo- und Aktivismusfaul. Gar nicht aktiv zu sein wäre aber keine Option: „Ich störe halt auch gern Leute. Ich konfrontiere gerne Menschen mit Dingen. Ich glaube, dass was wir alle bisschen mehr brauchen, ist ein bisschen mehr Wohlwollen uns selbst und einander gegenüber.“
Fortsetzung folgt
„Will ich nicht eigentlich nur Musik machen?“ ist sein Gedanke, wenn es darum geht, seine Zuhörer*innen mit Plattenverkäufen abzuholen, da Soziale Medien zu viel Geld, Zeit und Energie kosten, die der Musiker momentan nicht zur Verfügung hat. Die relativ geringe Klickanzahl und Bekanntheit lässt wienerzucker nicht in Ruhe. Ungeachtet dessen ist der Künstler froh nicht Berufsmusiker zu sein. Konkrete Pläne für die gibt es noch keine, jedoch wäre es ein starker Wunsch von wienerzucker, eines Tages beim Donauinselfest oder einem für ihn unbekannten anderen Festival zu spielen, um Neues zu entdecken. Der Song Wolfgang Sobotka weint steht bereits in den Startlöchern und wird voraussichtlich noch im Herbst 2023 erscheinen. „Es wird auf alle Fälle auch wieder ein Album kommen, weil das die Art und Weise ist, wie ich am liebsten Musik konsumiere – 40 bis 60 Minuten eine Idee zu hören!
Ich habe Angst davor, dass Alben aussterben. Also der ganz bescheidene Wunsch, die Musikbranche damit zu erhalten.“